Der ehemalige SPAR-Vorstandsvorsitzende Gerhard Drexel plädiert in seinem aktuellen Buch für ein neues Lebensmodell im Alter und erklärt, warum er den klassischen Ruhestand für einen „fatalen Irrtum“ hält.
Gerhard Drexel, ehemaliger Vorstandsvorsitzender und heute Aufsichtsratspräsident der SPAR Österreich, arbeitet in seinem neuen Buch „Irrtum Ruhestand“ eine provokante These heraus: Der klassische Ruhestand sei ein fundamentaler Irrtum – sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft.
Der Autor beschreibt gleich zu Beginn seine persönliche Motivation: Mit 65 Jahren aus dem Vorstand ausgeschieden, weigere er sich konsequent, den Begriff „Pensionierung“ zu akzeptieren. „Ich fühle mich nicht im Ruhestand. Ich bin auch nicht im Ruhestand!“ betont er und beschreibt, wie er als Aufsichtsratsvorsitzender, Honorarprofessor und Autor eine erfüllende „post-operative Tätigkeit“ gefunden habe.
Drexel stellt das traditionelle Drei-Phasen-Modell des Lebens – Ausbildung, Arbeit, Ruhestand – in Frage: Es entspreche nicht der heutigen Lebenswirklichkeit. Stattdessen schlägt er vier Phasen vor, wobei zwischen der Berufstätigkeit und dem eigentlichen Ruhestand eine zusätzliche Phase, eben eine solche „post-operativen Tätigkeit“, eingeschoben werden solle. Eine solche Zwischenphase sieht er als Schlüssel zu einem erfüllten Alter. „Wer sich im Alter keine Aufgaben gibt, gibt sich selbst auf“, zitiert er Cicero.
Der Autor unterstreicht unter anderem die negativen gesundheitlichen Folgen eines abrupten Ruhestands. „Je früher sich ein Mensch zur Ruhe setzt, desto früher beginnt auch sein körperlicher und geistiger Verfall“, konstatiert er und stützt seine These mit Studien, die einen beschleunigten kognitiven Abbau und ein erhöhtes Demenzrisiko belegen. Im Gegensatz dazu könne längeres Arbeiten die Lebenserwartung steigern. In einer Untersuchung der Oregon State University etwa habe jedes zusätzliche Jahr an Arbeit das Risiko, vorzeitig zu sterben, um elf Prozent gesenkt.
Drexel betont die „Würde des Menschen als oberste Maxime“. Im Pensions-Kontext bedeute das, „dass es für jeden Menschen die freie Entscheidung sein und bleiben muss, ob er nach dem Erreichen des Pensionsantrittsalters weiterhin Arbeiten verrichten möchte oder eben nicht.“ Und er räumt ein, dass seine Thesen nicht für alle gleichermaßen passen: „Wenn beispielsweise Schicht- oder Schwerarbeiter ihr Pensionsalter erreicht haben, ist es ihr gutes Recht und auch mehr als verständlich, wenn sie ihren wohlverdienten Ruhestand antreten“. Explizit erwähnt er an anderer Stelle „körperlich besonders hart arbeitende Menschen, wie etwa Bauarbeiter, Dachdecker, Fließbandarbeiter und Erntehelfer“.
Speziell geht der Autor auf das „doppelte Dilemma“ im „so lebensrelevanten Gesundheitswesen“ ein: Während in den kommenden Jahren viele erfahrene Fachkräfte aus dem Beruf ausscheiden, steige gleichzeitig der Bedarf an medizinischen Leistungen. Ein Beispiel, wie hier die „postoperative Tätigkeit“ aussehen könnte, liefert er mit der Beschreibung eines Arztes, der einige Monate nach seiner Pensionierung wieder in Teilzeit ins Krankenhaus zurückkehrte. Dies ohne Führungsverantwortung, aber mit der Freude, „sich um die Menschen zu kümmern“.
Drexel diskutiert das Thema nicht nur aus der individuellen Perspektive, sondern zeigt auch gesellschaftliche Implikationen auf. Das österreichischen Pensionssystem hält er für „nicht mehr finanzierbar und akut gefährdet“. Bereits heute fließe ein Viertel des Bundesbudgets in Pensionszuschüsse, mit steigender Tendenz.
Der ehemalige Top-Manager kritisiert auch das Konzept der Work-Life-Balance: „Arbeit und Leben sind kein Widerspruch, auch und gerade im Alter nicht". Die Work-Life-Balance sei ein „sprachlicher Fehlbegriff“: „Die Arbeit steht nicht außerhalb des Lebens oder gar im Widerspruch zum Leben, sondern ist ein Teil des Lebens. Sie gehört zum sinnorientierten Leben.“
„Irrtum Ruhestand“ verknüpft persönliche Erfahrung, wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Handlungsempfehlungen, individuelle und gesellschaftliche Perspektiven. Die Forderungen des Autors nach einer Anpassung des Pensionsalters an die gestiegene Lebenserwartung und einem flexiblen „Renteneintrittsrahmen“ nach skandinavischem Vorbild sind nachvollziehbar, aber politisch aktuell wohl nicht mehrheitsfähig.
Drexels Vorschläge sind allerdings auch stark von seiner privilegierten Position geprägt. Als ehemaliger Vorstandsvorsitzender hat er Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung im Alter, die vielen anderen so sicher nicht zugänglich sind. Eine tiefergehende Analyse des Problems der Altersarbeitslosigkeit wäre eine interessante Ergänzung zu den formulierten Thesen, ebenso würde eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Arbeitsmodellen für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen im Alter das Thema weiter abrunden.
Ein interessanter Diskussionsbeitrag zur Zukunft unserer alternden Gesellschaft sind Drexels Thesen allemal. Sein Credo „Ich muss nicht arbeiten, aber ich darf“ ist ein Anstoß für die Auseinandersetzung mit einer positiven Alterskultur und für ein anderes Verständnis von Altern – eines, in dem sinnstiftendes Tätigsein ein neues Licht auf das Konzept Ruhestand wirft.
Birgit Kofler
Gerhard Drexel: Irrtum Ruhestand. Wie die späten Jahre die besten werden.
Verlag edition a, Wien 2025.
232 Seiten, ISBN: 978-3-99001-810-1