Rund 1,8 Millionen Menschen in Österreich leiden unter chronischen Schmerzen, und bei weitem nicht alle von ihnen haben Zugang zu angemessener Behandlung. Besonders einkommensschwache und vulnerable Gruppen sowie Menschen in ländlichen Regionen sind von der wachsenden Kluft in der Schmerzversorgung betroffen, sagt Wilhelm Eisner, Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft, im Gespräch mit INGO. Er warnt vor den negativen Folgen dieser Entwicklung und appelliert an die Entscheidungsträger*innen, nicht bei Schmerzpatient*innen zu sparen.
Interview: Birgit Kofler
Die Österreichische Schmerzgesellschaft weist auf regionale und soziale Ungerechtigkeit im Versorgungsangebot für rund 1,8 Millionen Schmerzpatient*innen hin. Woran machen Sie diese Schieflage konkret fest?
Wilhelm Eisner: Eine aktuelle Analyse der Versorgungslage zeigt, dass die Anzahl der Krankenhäuser mit Schmerzambulanzen insgesamt im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie um 7,5 Prozent abgenommen hat. In ganz Österreich sind nur noch sieben Vollzeit-Schmerzambulanzen aktiv. Das heißt, es kommt schon einem Lotterietreffer nahe, wenn man in der Nähe des Wohnorts eine entsprechende Einrichtung hat. Besonders betroffen von den Versorgungslücken sind einkommensschwächere Patient*innen, die nicht in die Privatmedizin ausweichen können. Gleichzeitig ist ein niedrigerer sozialer Status unter anderem mit mehr Rückenschmerzen assoziiert – durch schwere körperliche Tätigkeiten, ungünstige Ernährung und andere Faktoren. Ausgerechnet dieser Gruppe fehlt dann das Geld für den Selbstbehalt bei der Physiotherapie oder andere Optionen. Gute Schmerzversorgung darf aber keine Frage von Wohnort und Geldbeutel sein.
Wie ist es erklärbar, dass bei steigendem Bedarf das schmerzmedizinische Angebot im öffentlichen Gesundheitssystem zurückgeht?
Wilhelm Eisner: Da kommen verschiedene Faktoren zusammen. Wenn ich als Krankenhaus einen Mangel an Anästhesist*innen habe, werde ich sie eher im OP einsetzen als in einer Schmerzambulanz. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie dort mehr LKF-Punkte einbringen als mit der Behandlung chronischer Schmerzen. Denn die ist im spitalsambulanten Bereich deutlich zu wenig honoriert. Wenn ich chronische Schmerzpatient*innen gründlich untersuche und alles Nötige erhebe, brauche ich schon einmal eine bis eineinhalb Stunden. Dafür bekommt das Spital bei uns in Innsbruck beispielsweise eine ambulante Pauschale von etwa 65 Euro, früher betrug die Leistung etwa 35 Euro, was weit von einer Kostendeckung entfernt ist. Schmerzerhebung, Therapieplanung, Therapiebeurteilung – all diese Leistungen sind nicht entsprechend abgebildet. Kann man in der Zeit mit anderen Leistungen 100 oder 150 Euro lukrieren, ist das natürlich attraktiver. Deshalb ist eine Schmerzambulanz eine Serviceleistung, die dem Krankenhaus kaum etwas bringt. Und für die Vergütung im niedergelassenen Bereich gilt das leider auch, komplexe Schmerzmedizin kann sich ein Kassenarzt nicht leisten.
Das ist eine langjährige Diskussion. Ist denn da nach wie vor keine Verbesserung in Sicht?
Wilhelm Eisner: Mit Jahresbeginn sind in einigen Details im LKF-System in Kraft getreten, die zu einer verbesserten Situation beitragen. Zum Beispiel ist die telemedizinische Überwachung implantierter Stimulatoren für die Schmerzlinderung jetzt eine abrechenbare Leistung. Aber da fehlt auch noch Vieles. Hoffnungen setzen wir in die künftige Implementierung des neuen ICD-11, der internationalen Diagnoseklassifizierung. Hier wird das Problem chronischer Schmerz viel besser abgebildet als bisher. Wir hoffen, dass sich dieses neue Diagnostikschema dann auch in der LKF- und Krankenkassen-Abgeltung besser abbilden wird. Und dann werden hoffentlich neue Versorgungsangebote in der sozialen Medizin entstehen.
Seit 2024 ist die integrative Schmerzversorgung im Österreichischen Strukturplan Gesundheit verankert. Hat sich durch diese Verankerung in der Gesundheitsplanung denn schon etwas konkret verändert?
Wilhelm Eisner: Das war ein wichtiger Erfolg, dass hier seit letztem Oktober erstmals die abgestufte, multimodale Schmerztherapie verankert ist. Die Patient*innen werden einem strukturierten Programm mit klar definierten Behandlungszielen zugeführt, das kann von der ambulanten Behandlung bis zur stationären Versorgung, wenn nötig auch bis zu operativen Eingriffen. Aber jetzt muss das auch auf Ebene der einzelnen Bundesländer umgesetzt werden, und das erfolgt unterschiedlich intensiv. In Wien etwa entstehen neue Schmerzzentren, andere Bundesländer hinken nach. Das große Risiko angesichts des Budgetlochs und der drohenden Sparmaßnahmen ist, dass wieder bei der Schmerzversorgung gespart wird. Und wieder nicht in jedem Bundesland mindestens ein multimodales Zentrum implementiert wird.
Warum braucht es unbedingt spezialisierte Einrichtungen? Kann das nicht der niedergelassene Sektor leisten?
Wilhelm Eisner: Nehmen wir das Beispiel Rückenschmerz. Da haben wir in etwa 15 bis maximal 20 Prozent der Fälle spezifische Schmerzen, bei denen man klar zuordnen kann, woher sie kommen, was eine Behandlung der Ursache ermöglicht. In den restlichen 80 bis 85 Prozent aber ist der Rückenschmerz unspezifisch, also ohne eindeutige Ursache. Das ist eine Königsdisziplin, hier den richtigen Behandlungsweg zu finden, weil keine offensichtliche körperliche Schädigung zu erkennen ist. Natürlich müssen nicht alle Betroffenen in eine spezialisierte Einrichtung, also die höchste Stufe der Versorgung. Aber es muss auf allen Versorgungsstufen klar sein, wer behandelt und wer weiterverwiesen wird. Daher wurde zum Beispiel im Rahmen der Zielsteuerung – unter unserer aktiven Mitarbeit – für den Bereich unspezifischer Rückenschmerz einen Qualitätsstandard entwickelt mit Empfehlungen für eine abgestufte Versorgung. Es wird immer einen bestimmten Prozentsatz Betroffener geben, deren Probleme so komplex sind, dass sie ganz spezielles Know-how benötigen.
Sie haben wiederholt darauf hingewiesen, dass es nicht nur das Phänomen Unterversorgung in der Schmerzbehandlung gibt, sondern auch Fehl- oder manchmal sogar Überversorgung. Was meinen Sie da konkret?
Wilhelm Eisner: Bleiben wir beim Problem Rückenschmerz mit einer Schmerzausstrahlung in das Bein. Das kann tatsächlich der berühmte Bandscheibenvorfall sein, der in solchen Fällen so gut wie immer diagnostiziert wird. Aber eine sehr ähnliche Schmerzausstrahlung kann auch durch eine chronische Fehlhaltung, etwa bedingt durch eine Dysbalance zwischen Bewegungs- und Haltemuskulatur, verursacht sein. Die Haltemuskulatur ist bei vielen von uns unterentwickelt, mit zunehmend Alter immer mehr. Das wird aber leider oft nicht gesehen.
Was läuft da bei der Diagnose falsch und welche Konsequenzen hat das?
Wilhelm Eisner: Es ist leider etwas aus der Mode gekommen, Menschen mit den Händen zu untersuchen, wir verlassen uns vorwiegend auf die Bildgebung. Wir brauchen aber eine Trias der Diagnostik: Die Schilderung der Patient*innen über ihre Beschwerden, die körperliche Untersuchung und dann noch der Abgleich mit den Bildern. Das große Problem sind die Konsequenzen, nämlich dass auch in Fällen solcher muskulären Dysbalancen zur Wirbelsäulen-OP geraten wird, obwohl sie da nichts bringt, weil ja nicht der Nerv durch einen ebenso vorhandenen Bandscheibenvorfall gereizt ist. In diesen Fällen ist die Kräftigung und die Dehnung der Haltemuskulatur die angemessene Antwort auf die Beschwerden und nicht das Skalpell. Ich trete dafür ein, dass bei Rückenoperationen eine Zweitmeinung eingeholt werden sollte, damit gegebenenfalls alle konservativen Optionen ausgeschöpft werden. Die Krankenkasse sollte die Kosten für eine solche Zweitmeinung übernehmen, damit es keine finanzielle Hürde gibt. Das würde den Gesundheitssektor effektiv von unnötigen Operationen entlasten. Und die Betroffene bekommen ohne OP wieder ein großes Stück Lebensqualität zurück.
Was sind – allgemeiner gesprochen – aus Ihrer Sicht wichtige Schritte zu einer besseren Versorgung?
Wilhelm Eisner: Ein Kernstück einer gelungenen abgestuften Versorgung sollten die Hausärzt*innen als Manager*innen der Patient*innen sein, als Dreh- und Angelpunkt im Wirrwarr der Medizinlandschaft. Zudem müssen wir sicher mehr Ärzt*innen für physikalische Medizin, für konservative Orthopädie oder Neurolog*innen mit rehabilitativem Schwerpunkt ausbilden, denn die fehlen uns in der Versorgung.
Was ist Ihre zentrale Forderung für die neue Legislaturperiode?
Wilhelm Eisner: Unbedingt nicht nur auf den Moment zu blicken, sondern die Zukunft im Auge zu behalten. Investitionen in die Schmerzmedizin jetzt werden künftige Schäden vermeiden, die das Zigfache an Kosten verursachen. Das bedeutet einen Ausbau der Versorgung, aber unbedingt auch der Prävention. Wenn die Schmerzmedizin weiter in den Boden gefahren wird, wird die Politik irgendwann mit 1,8 Millionen Betroffenen allein dastehen.
Foto: Österreichische Schmerzgesellschaft/APA-Fotoservice/Schedl
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Zur Person:
Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner studierte von 1983 bis 1990 Humanmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und arbeitete anschließend als Assistenzarzt am Klinikum Großhadern der Universität München. Seit 1998 ist er Facharzt für Neurochirurgie mit Schwerpunkt elektrophysiologisch kontrollierte Neurochirurgie und funktionelle Neurochirurgie und Stereotaxie, einschließlich Schmerztherapie und Radiochirurgie. Nach zahlreichen Hospitationen im In- und Ausland wechselte er 1999 als Oberarzt an die Universitätsklinik für Neurochirurgie in Innsbruck zum Aufbau und der Etablierung der Funktionellen Neurochirurgie und Stereotaxie und der intraoperativen Elektrophysiologie, wo er 2002 habilitierte. Wilhelm Eisner ist langjähriges Vorstandsmitglied und für die Periode 2023 bis 2025 Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft, Co-Referent für Schmerzmedizin in der Tiroler Ärztekammer, Sektionssprecher für Funktionelle Neurochirurgie, Stereotaxie, Schmerztherapie, Radiochirurgie, Intraoperative Elektrophysiologie und Bildgebung der Österreichischen Gesellschaft für Neurochirurgie sowie ehemaliger Vize-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neuromodulation. Neben der Medizin ist er auch als Musiker und Komponist tätig.