Florian Krammer spricht im INGO-Interview über das neue Ignaz Semmelweis Institut, Pandemie-Risiken in Sachen Vogelgrippe, aktuelle Forschung zu Hanta-Viren oder Grippe-Vakzinen und Lehren aus COVID-19.
Interview: Karin Lehner
Wie groß ist aktuell die Gefahr einer Vogelgrippe-Pandemie?
Florian Krammer: Die Situation ist problematisch, weil viel Virus in der Natur kursiert. In Nordamerika gibt es viele Infektionen in Wildvögeln, aber auch vermehrt Übersprünge in Geflügel- und Milchbetriebe. In Europa, Asien und Afrika zirkuliert ebenfalls viel Virus. Gerade von Kühen könnte es auf Menschen überspringen. Vor allem wenn sich eine Person mit H5N1 und saisonaler Influenza gleichzeitig infiziert, können Vogelgrippe-Viren Genom-Segmente mit humanen Influenza-Viren austauschen. So könnte ein Virus entstehen, das sich sehr gut von Mensch zu Mensch verbreitet. Das Risiko für eine neue Pandemie ist erhöht, aber sie steht nicht in den nächsten Tagen ins Haus. Doch wir müssen uns vorbereiten.
Die USA veröffentlichen aber keine Daten mehr und planen den WHO-Ausstieg.
Florian Krammer: Ein großes Problem. Aber schon unter Ex-US-Präsident Joe Biden wurde schlecht auf H5N1 reagiert, denn die Verbreitung über Milchkühe hätten wir stoppen können. Aber es gab ein Durcheinander, weil Bundes- und lokale Behörden zuständig sind. Wer greift durch? Im Endeffekt wurde nicht viel gemacht.
Wie hätten eingeschritten werden müssen?
Florian Krammer: Der humane H5N1-Impfstoff, der in Finnland schon verimpft wird, könnte bei Kühen eingesetzt werden. Auch ein eigener für sie wäre leicht herstellbar. Im März 2024 kam es zu einer Über-tragung des Virus von Vögeln auf Milchkühe. Dann ging sie von Milchkuh zu Milchkuh und über Tiertransporte von Farm zu Farm weiter. Die US-Landwirtschaftsbehörde fing erst spät an, Kühe auf H5N1 zu testen und ihren Transport zu unterbinden. Geimpft werden sie nach wie vor nicht. Zusätzlich ist in Nevada gerade ein neuer H5N1-Genotyp von Vögeln auf Kühe übergesprungen. Auch Geflügel wird in den USA nicht gegen H5N1 und H7, ein anderes Vogelgrippe-Virus, geimpft. In China sehr wohl. Hier gibt es weniger Probleme.
Ist die Weltgemeinschaft auf eine neue Pandemie vorbereitet?
Florian Krammer: Da wäre wieder sehr viel Chaos. Dennoch sind wir auf die Vogelgrippe besser vorbereitet als damals auf COVID-19. Es gibt antivirale Medikamente wie Baloxavir, die bei H5N1 genauso funktionieren. Zudem können wir mit Influenzaviren umgehen und haben Impfstoffe. Wir können klassische, auf gut österreichisch „altvatrische“ H5N1-Vakzine produzieren, die von der Bevölkerung wohl leichter akzeptiert werden als neue Technologien wie mRNA. Für die gesamte Welt haben wir zwar zu wenig Impfstoff. Aber in Europa, den USA, Thailand, Vietnam, Brasilien etc. gibt es große Produktionsstätten, die ihn schnell herstellen könnten. Trotzdem würde es wohl Millionen Tote geben. Aber je gründlicher wir vorbereitet sind, desto besser kommen wir durch. Es gilt, Schäden zu minimieren. Dafür müssten wir Pandemiepläne mit unterschiedlichen Szenarien wie Perspektiven entwickeln. Wie reagiert die Wirtschaft? Was passiert mit Schüler*innen? Hier haben wir Nachholbedarf.
Woran forscht Ihr Team in Wien?
Florian Krammer: Ein Schwerpunkt ist H5N1. Dazu veröffentlichen wird bald das erste Paper. Außerdem beschäftigen wir uns mit Hantaviren. Sie sind in der Steiermark und Teilen Kärntens ein Problem, weil es bis jetzt weder Medikamente noch eine Impfung gibt. Verbreitet werden sie über die Rötelmaus. In Österreich kommt der Stamm Puumala-Virus vor, benannt nach dem Ort in Finnland, an dem es ebenfalls verbreitet ist. Rund um den Schöckl bei Graz tritt auch das Dobrava-Belgrad-Virus auf. Etwa zehn Prozent aller Infizierten sterben daran. Bei Puumala-Virus Infektionen hingegen unter 0,5 Prozent, das ist meistens „nur“ eine schwere Erkrankung. Der heimische Rekord liegt bei mehr als 200 Puumala-Fällen pro Jahr. Menschen infizieren sich über Urin und Kot infizierter Nager, wenn Exkremente eintrocknen und bei Arbeiten aufgewirbelt und eingeatmet werden, Stichwort Aerosol. Beispielsweise bei Waldarbeiten oder beim Kehren der Garage, in der Mäuse leben. Also nicht putzen oder eine FFP2-Maske aufsetzen.
Wie weit ist der neue Grippe-Impfstoff, denSie am New Yorker Mount Sinai erforschen?
Florian Krammer: Wir wissen aus einer klinischen Studie aus 2017, dass er in punkto Immunogenität beim Menschen funktioniert. Doch dann kam die COVID-19-Pandemie dazwischen. Nun planen wir drei klinische Studien, die 2025 beginnen. Außerdem verfolgen wir noch eine zweite Strategie, die auf Neuraminidase, einem Enzym des Influenza-Virus, basiert. Auch diese Studie startet heuer.
Kommen wir zu COVID-19. Das Virus sorgt es bei vulnerablen Menschen weiterhin für Krankheit und Tod. Wird es bald neue Impfstoffe für eine sterile Immunität geben?
Florian Krammer: Die Biden-Regierung startete das Projekt NextGen zur Entwicklung intranasaler Impfstoffe, die vor Infektionen schützen können. Diese Impfstoffe befinden sich in Phase 2b der klinischen Entwicklung. Hier wird an zehntausenden Menschen getestet. Das sind Efficacy-Studien, bei denen Forscher nicht nur schauen, ob Vakzine Erkrankungen verhindern können, sondern auch Infektionen. Nach einer erfolgreichen kleinen Phase 3 würde es 2027 zur Zulassung kommen. Doch die aktuellen angepassten Impfstoffe mit KP.2 oder JN.1 funktionieren auch gut. Zwar ist die Verhinderung der Ansteckung schwierig, weil sie in den oberen Atemwegen keine Immunität geben. Aber nach aktuellen Effectiveness-Daten liegen sie zwischen 50 und 60 Prozent. Das kling nach wenig, ist aber trotzdem sehr hilfreich. Sich impfen zu lassen zahlt sich aus. Ich holte mir letztes Jahr den Proteinimpfstoff Novavax, weil ich einmal etwas anderes als mRNA-Impfstoffe probieren wollte.
Dennoch steigt die Anzahl der Long-Covid-Betroffenen. Für die schwerste Ausprägung in Form von ME/CFS gibt es keine Therapie. Können Sie Hoffnung schenken?
Florian Krammer: In Europa und den USA wird viel in die Forschung investiert, aber die genauen Mechanismen dahinter kennen wir noch nicht genau. Daher gibt es leider noch keine Therapien für das vielfältige Krankheitsbild. Manche Beschwerden reduzieren sich, doch andere führen zu langfristigen Problemen, die nicht verschwinden. Dahinter könnten Autoimmunkomponenten stecken oder das persistente Vorhandensein viraler Stimuli, die zu Entzündungen führen. In anderen Fällen ist Gewebe irreparabel geschädigt.
Univ.-Prof. Dr. Kathryn Hoffmann, Leiterin des Referenzzentrums für postvirale Syndrome und ME/CFS, schrieb auf X: „COVID und Long COVID haben viele von uns um etwa zwei Jahrzehnte gealtert. Es ist ein viel größerer Herz-, Gehirn-, Nieren- und Stoffwechsel-Risikofaktor als schlechte Ernährung, keine Bewegung, Rauchen, Bluthochdruck und Cholesterin kombiniert." Sie regt die Anpassung von Risikorechnern an. Sinnvoll?
Florian Krammer: Ja, aber nicht nur im Hinblick auf SARS-CoV-2. Es ist Blödsinn, das Immunsystem mit Infektionen trainieren zu wollen. Denn wir finden langsam heraus, dass sie Auswirkungen haben. Vor zwei Jahren beispielsweise, dass Epstein-Barr-Viren ein großer Risikofaktor für MS sind. Ich denke, alle Entzündungsreaktionen, die durch Corona-, Influenza- und sogar scheinbar harmlose Rhino-Viren ausgelöst werden, können ein Problem darstellen und führen möglicherweise später zu Erkrankungen. Bei COVID-19 fiel das auf, weil es so viele Infektionen gab, anfangs mit schweren Verläufen. Hier häufen sich nun sichtbare Langzeitfolgen. Dazu braucht es viel mehr systematische Forschung.
Es ist Blödsinn, das Immunsystem mit Infektionen trainieren zu wollen.
Florian Krammer
Die Menschen in Österreich sind wissenschaftsskeptisch. Ein Ziel Ihres Instituts ist die Verbesserung der Wissenschaftskommunikation. Warum scheiterte die Corona-Aufklärung, Stichwort Tröpfchen- statt Aerosol-Infektion und Babyelefant statt FFP2-Maske?
Florian Krammer: Das waren große Kommunikationsfehler, auch von der WHO. Die Verantwortlichen wollten nichts sagen, was noch nicht bewiesen war. Die Aerosol-Übertragung wurde immer vermutet, aber es gab anfangs keine Daten. Übervorsicht wäre besser gewesen. Auch US-Immunologe Anthony Fauci verkündete zunächst, Masken sind nicht notwendig. Ebenso Unsinn, aber dem Umstand geschuldet, dass es zu wenige gab und sie in Spitälern benötigt wurden. Auch bei Impfstoffen ist Ehrlichkeit wichtig. In meinen Vorträgen spreche immer über Nebenwirkungen von mRNA-Vakzinen. Aufgrund ihrer Reaktogenität kann es passieren, dass es zum Beispiel zu Fieber und Influenza-ähnlichen Symptomen kommt. Mit dem Verschweigen verlieren wir Glaubwürdigkeit.
Ignaz Semmelweis, Namensgeber Ihres Instituts, war der Erfinder moderner Spitals-Hygiene. Was würde er dazu sagen, dass im Gesundheitsbereich Grippe-, Noro- und Coronaviren durchrauschen?
Florian Krammer: Von Spätherbst bis ins Frühjahr wäre aufgrund der Vielzahl respiratorischer Viren die Verwendung von Masken sinnvoll. Sie bringen viel, denn sie verhindern Infektionen und mögliche Folgen.
Bilder: MedUni Wien/feelimage
Zum Ignaz Semmelweis Institut
Anfang 2025 hat das neue Ignaz Semmelweis Institut seine Arbeit aufgenommen. Es handelt sich um einen Zusammenschluss der MedUni Wien, Med Uni Graz, MedUni Innsbruck, der Johannes-Kepler-Universität Linz sowie der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Das Institut widmet sich der Erforschung von Infektionskrankheiten, um ein besseres Verständnis von Krankheitserregern und Krankheiten sowie die Entwicklung von Gegenmaßnahmen wie Therapeutika und Impfstoffen zu erreichen.
https://semmelweisinstitute.ac.at
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Florian Krammer, PhD, schloss sein Studium an der Universität für Bodenkultur in Wien ab. Seine Postdoc-Ausbildung absolvierte er im Labor von Dr. Peter Palese an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai, New York, wo er an universellen Influenzavirus Impfstoffen arbeitete. Im Jahr 2014 wurde er unabhängiger Principal Investigator und ist derzeit Mount-Sinai-Stiftungsprofessor für Vakzinologie an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai. Zudem ist er Co-Direktor des Centers for Vaccine Research and Pandemic Preparedness (C-VaRPP). Außerdem ist Krammer seit März 2024 Professor für Infektionsmedizin an der Medizinischen Universität Wien, seit Anfang 2025 leitet er das Ignaz Semmelweis Institut. Krammer ist gewählter Fellow der American Academy of Microbiology und der Henry Kunkel Society, er gehört dem Vorstand der European Scientific Working Group on Influenza (ESWI) an und ist einer der Vorsitzenden der SAVE-Gruppe, die SARS-CoV-2-Varianten für das US NIH verfolgt. Er ist außerdem Preisträger des Geoffrey-Schild-Preises 2024. Der Schwerpunkt des Krammer-Labors innerhalb des Semmelweis Instituts liegt auf RNA-Viren, insbesondere Influenzaviren, Coronaviren und Hantaviren, aber auch auf anderen neu auftretenden Viren.