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Gesundheit
Österreich
13.09.2023

„In Österreich fehlt eine einheitliche nationale Digitalisierungsstrategie“

Das heimische Gesundheitssystem steht vor großen Herausforderungen. Expert*innen fordern in diesem Zusammenhang massive Verbesserungen in der medizinischen Digitalisierung sowie eine raschere Implementierung von neuen Technologien. INGO hat dazu mit dem Medizinwissenschaftler Dr. Florian O. Stummer von der Medizinischen Universität Wien gesprochen.

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird aktuell vielerorts diskutiert. Wie aber kann diese das System entscheidend verbessern?

Florian Stummer: Das heimische Gesundheitssystem ist unter anderem auch durch die Corona-Pandemie in noch stärkerem Ausmaß mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert als es schon davor der Fall war, wobei die Digitalisierung den zentralen Dreh- und Angelpunkt für zukünftige Planungssicherheit und Optimierung darstellt. Aber bereits hier zeigt sich ein erstes Problem beim Knowledge Transfer aus der führenden englischsprachigen Forschungslandschaft. Es ist ein Unterschied, ob man von „Digitization“, also dem Prozess wie Informationen von analog ins Digitale überführt werden, oder der „Digitalisation“, also der Nutzung von digitalen Daten durch adäquate Technologien, spricht. Neue Digitalisierungstechnologien können die Effizienz nämlich nur insofern steigern, als die Aufbereitung der zur Verfügung stehenden Daten dies ermöglicht. Präzisere Diagnosen, individuelle Behandlungen, interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Gesundheitsberufe – alles hehre Absichten –, fangen dort zu kranken an, wo es um ein „Reden wir denn von Demselben?“ geht. Wir müssen uns zuerst einmal darüber klarwerden, welche Daten in welcher Form gesammelt werden müssen, um sie dann beispielsweise als Patient Summary aufzubereiten, durch eine Künstliche Intelligenz zu analysieren oder zu interpretieren beziehungsweise auf einer App darzustellen.

Wo geht die Reise generell hin?

Die Reise geht in Richtung eines vernetzten Gesundheitssystems, in dem Daten in Echtzeit geteilt werden sollen, sodass medizinische Expert*innen besser informiert sind, schneller und dabei sicherer reagieren können. Dies erhöht die Behandlungsqualität und die Patientensicherheit. Fehler, die durch Informationsmangel entstehen, können so minimiert werden. In jedem Fall muss bei allseitigem Wunsch zur Technologie der Mensch im Mittelpunkt stehen. Die Technik soll dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Das bedeutet, dass trotz aller Digitalisierung der menschliche Aspekt, das zwischenmenschliche Gespräch und die physische Untersuchung nicht verloren gehen dürfen. In diesem Sinne kann die Digitalisierung als Werkzeug gesehen werden, das, richtig eingesetzt, das Gesundheitssystem entscheidend verbessern kann, wenn die vorangehende „Digitization“ lege artis umgesetzt wird.

Der Begriff e-Health bezeichnet den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitssystem. Wo stehen wir hier in Österreich? 

E-Health ist natürlich auch für Österreich von großer Bedeutung. Der Sektor hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt, wobei insbesondere der intramurale Bereich die Nase vorne hat. Zum einen, da dort sowohl IT-Support als auch Personalressourcen für diagnosespezifische Pilotprojekte effizient gebündelt werden können. Im extramuralen Bereich sieht die Lage leider nicht so rosig aus. Grund dafür ist, dass Pilotprojekte nach einer Laufzeit von drei bis fünf Jahren ihre finanzielle Förderung verlieren. Die Übernahme in die Regelförderung ist sehr selten. Nach wie vor wird in vielen internationalen wissenschaftlichen Publikationen auf „HerzMobil Tirol“ hingewiesen, das 2012 als Pilot startete und 2017 in die Regelversorgung überging. Das war’s dann aber auch schon mit evaluierten Projekten aus Österreich aus dem Bereich Telemedizin im extramuralen Bereich.


Woran mangelt es noch? Welche strukturellen Veränderungen sind notwendig?

Es fehlt an einer einheitlichen nationalen Digitalisierungsstrategie in Österreich. Eine solche Strategie würde nicht nur klare Richtlinien und Standards setzen, sondern auch dazu beitragen, Silo-Lösungen zu vermeiden und eine kohärente Implementierung sicherzustellen. Es fehlt auch an einer ausreichenden Interoperabilität zwischen den Systemen, was den freien Datenfluss zwischen verschiedenen Gesundheitsdienstleistern behindert. Daher sind strukturelle Veränderungen unerlässlich, um den vollen Nutzen der e-Health-Möglichkeiten auszuschöpfen. Zum einen muss eine starke Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten, einschließlich der öffentlichen und privaten Sektoren, gefördert werden, zum anderen ist eine umfassende Schulung des medizinischen Personals sowie der Patient*innen im Umgang mit digitalen Tools erforderlich, um deren Akzeptanz und Nutzung zu gewährleisten. Dies alles vorausgesetzt, dass die Infrastruktur verbessert wird, um Daten sicher übertragen zu können. Erst Anfang September 2023 wurde einer der größten Telemedizin-Anbieter, das Schweizer Unternehmen „Medgate“, Ziel eines Hackerangriffs, sodass IT-forensische Analysen durchgeführt werden mussten, ob und in welchem Ausmaß Daten abgeflossen sind. „Medgate“ hat 500 Mitarbeiter*innen, versorgt 280.000 Schweizer*innen und hat satte 24 Jahre Erfahrung auf dem Gebiet.

"Strukturelle Veränderungen sind unerlässlich, um den vollen Nutzen von e-Health auszuschöpfen", sagt Experte Florian Stummer.

Was genau soll Digitalisierung im niedergelassenen Gesundheitsbereich bewirken?

Die Digitalisierung im niedergelassenen Bereich verfolgt mehrere Ziele. Einerseits soll sie für eine effizientere Patientenversorgung sorgen, indem sie die Kommunikation zwischen Patienten und Gesundheitsdienstleistern erleichtert und verbessert, andererseits ermöglicht die digitale Datenerfassung eine bessere Diagnostik und Therapie durch den Zugriff auf umfangreiche Patienteninformationen in Echtzeit. Alle voran jedoch kann Digitalisierung dazu beitragen, Kosten zu senken, indem manuelle Prozesse reduziert und Ressourcen optimal genutzt werden.

Welche Unterschiede gibt es zum Spitalsbereich?


Während in Krankenhäusern der Fokus oft auf Verbesserung hochkomplexer Organisationsysteme bei der standardisierten Versorgung von vielen Patienten*innen liegt, geht es im niedergelassenen Bereich häufig um individuellere Lösungen. Der Spitalsbereich hat in der Regel auch Zugang zu mehr Finanzierung und Support, während niedergelassene Ärzte oft selbst für die Finanzierung und Implementierung digitaler Lösungen sorgen müssen. Zudem erschwer die Fragmentierung der Institutionen im niedergelassenen Bereich die Einführung digitaler Systeme, da Standards und Protokolle oft nicht einheitlich sind. Subsummiert: Möglich ist vieles, getan muss es werden. Und genau hier spießt es sich, da der „Austrian Way“ immer ein „Wer macht’s?“ und „Wer zahlt’s?“ fordert. Durch Misserfolge leidgeprüft findet sich zur ersten Frage immer seltener jemand. Die Sorge der Sündenbock zu sein, wenn es nicht funktioniert, ist sehr groß. Und zur zweiten Frage kommt es meist gar nicht, weil ein „Dafür haben wir kein Geld.“ die post-pandemische Doktrin zu „Koste es, was es wolle“ ist.


Was muss Ihrer Meinung nach kurz- und mittelfristig im österreichischen Gesundheitswesen passieren?

Es sind Reformen notwendig, um den Herausforderungen einer „digitalisierten“ Medizin und den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden. Kurzfristig sollte der Fokus auf einer umfassenden nationalen Digitalisierungsstrategie liegen. Es ist essenziell, dass die Gesundheitsinfrastruktur digitalisiert und vernetzt wird, um eine effiziente Patientenversorgung zu gewährleisten. Dies beinhaltet die Harmonisierung von Standards, um sicherzustellen, dass alle Akteure im Gesundheitswesen – von Krankenhäusern bis hin zu Einzelpraxen – miteinander kompatibel sind und Daten nahtlos austauschen können. Mittelfristig sollte der Schwerpunkt auf Forschung liegen. Es ist unerlässlich, die Bedürfnisse und Wünsche von Ärzten und Patienten zu verstehen, um das System entsprechend anzupassen. Darüber hinaus sollten Support-Strukturen geschaffen werden, die den Übergang erleichtern. 

Was wünschen Sie sich langfristig?

Langfristig ist es entscheidend, auf die Pensionierungswelle der Beamt*innen vorbereitet zu sein. Ein modernes Gesundheitssystem erfordert eine gut ausgebildete und engagierte Belegschaft. Es ist notwendig, sowohl in die Ausbildung als auch in die Anwerbung von Fachkräften zu investieren, um sicherzustellen, dass das System auch in Zukunft effizient und effektiv arbeiten kann. Insgesamt muss das österreichische Gesundheitswesen sich stetig weiterentwickeln und anpassen, wobei alle Akteure gemeinsam und zielgerichtet handeln müssen.

Text: Michi Reichelt; Fotos: Dr. Florian O. Stummer © privat/ Medizinische Digitalisierung © Unsplash

Florian O. Stummer, Dr., MPH, MBA

Head of Telemedicine Research, MedUni Wien

Stummer studierte in London, Cambridge, Edinburgh und Wien, arbeitete im klinischen und öffentlichen Gesundheitswesen und vertiefte seine Forschungskompetenzen an der Karl-Landsteiner-Universität, der Johannes-Kepler-Universität und der Medizinischen Universität Wien. Als polydisziplinärer Medizinwissenschaftler mit einem umfangreichen akademischen und praktischen Background in den Bereichen Telemedizin, Implementierungswissenschaft und Versorgungsforschung in der medizinischen Grundversorgung verbindet er die Bereiche Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Implementierungsmanagement.
Seine Freizeit verbringt der gebürtige Oberösterreicher am liebsten mit seiner Tochter. 

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