GÖG-Geschäftsführer Herwig Ostermann: Innovationsschub in der regionalen Strukturplanung
Die aktuelle Gesundheitsreform hat Fortschritte für die regionale Planung der ambulanten Versorgung und frisches Geld ins System gebracht, sagt der Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH Herwig Ostermann. Im Gespräch mit INGO erläutert er, welche Maßnahmen gegen die traditionelle Spitalslastigkeit gegriffen haben und wo er diesbezüglich Innovationen erwartet, unter welchen Bedingungen eine Konkurrenzsituation zwischen öffentlicher und privater Versorgung problematisch sein kann und welche nachhaltigen Strategien gegen den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen wirken können.
Beginnen wir mit einem Dauerbrenner. Die Entlastung des stationären Sektors beschäftigt die Gesundheitspolitik seit Jahrzehnten. Auf Basis der verfügbaren Daten: Wo steht Österreich heute bei diesem Thema, auch im internationalen Vergleich?
Herwig Ostermann: Im europäischen und im OECD-Vergleich liegen wir in Österreich bei den Hospitalisierungsraten nach wie vor auf den vorderen Plätzen, sind aber nicht mehr der einsame Spitzenreiter, der wir historisch waren. Die Krankenhaushäufigkeit ist seit 2008 rückläufig, mit einer besonders starken Dynamik in den vergangenen zehn Jahren, seit im Rahmen der Gesundheitsreform 2012 unter anderem tagesklinische oder ambulante Verfahren explizit auf die Agenda gekommen sind. Dieser Rückgang war substanziell, wenngleich durchaus nach wie vor auf einem hohen Niveau. Da ist noch Luft nach oben. Wobei das auch unter dem Aspekt Versorgungssicherheit und Versorgungsqualität zu sehen ist. Sobald belegt ist, dass eine Leistung ambulant mit derselben Qualität erbracht werden kann wie stationär, sollten die Patient*innen im ambulanten Setting betreut werden. Letztlich ist es auch der Weg, den der medizinische Fortschritt vorzeichnet. Was braucht es, um in diesem Bereich die nächsten und letzten Meilen zu gehen? Da stehen wir in Österreich natürlich immer vor der großen Systemsteuerungs-Herausforderung der unterschiedlich finanzierten Sektoren. Hier liegt auch das große Innovationspotenzial. Ein wichtiger Beitrag aus der aktuellen Gesundheitsreform liegt darin, dass jetzt in den Regionalen Strukturplänen Gesundheit auch der ambulante Bereich geplant werden kann.
Bleiben wir bei der aktuellen Gesundheitsreform vom Juni 2024. Was ist aus Ihrer Sicht der größte Fortschritt?
Ostermann: Ein nicht zu unterschätzender Fortschritt liegt genau in dieser Weiterentwicklung der regionalen Strukturpläne, die es vereinfacht, den ambulanten Sektor zu gestalten. Da können wir schon erwarten, dass ein Innovationsschub auf der regionalen Struktur-Planungsebene entsteht. Positiv sehe ich auch, dass es gelungen ist, dem System nachhaltig zusätzliche strukturelle Mittel zur Verfügung zu stellen. Das ist fast eine Milliarde Euro mehr pro Jahr. Der größte Teil ist für den Ausbau insbesondere des spitalsambulanten Sektors und innovativer Strukturen in diesem Bereich vorgesehen. Der andere Teil soll in den qualitativen und quantitativen Ausbau der Sachleistungsversorgung im niedergelassenen Bereich fließen. Die Herausforderung besteht darin, die Mittel so einzusetzen, dass sie tatsächlich in der Versorgungsrealität ankommen. Da ist die Erwartungshaltung hoch, die Gesundheitspolitik auf Bundesebene, Länder und Sozialversicherung muss nun zeigen, wie funktional diese gemeinsame Zielsteuerung ist.
"Wir haben im internationalen Vergleich, das wird oft übersehen, ein System mit besonders hohen privaten Gesundheitsausgaben pro Kopf und eine ausgeprägte Niedrigschwelligkeit, was die Anbieterseite betrifft."
Kommen wir zum aktuellen Aufreger bezüglich Wahlärzt*innen und politische Vorschläge, deren Tätigkeit stärker zu regulieren. Wie sehen Sie das Thema?
Ostermann: Im Fokus eines nationalen Public Health Instituts wie der Gesundheit Österreich steht die Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen. Wir haben historisch gewachsen eine gewisse Wahlfreiheit, die es Versicherten ermöglicht, auch private Leistungen zu beanspruchen und einen gewissen Anteil abgegolten zu bekommen. Im Sinne einer möglichst guten und nachhaltig gesicherten Versorgung gilt es hier allerdings dafür zu sorgen, dass der private und öffentliche Sektor optimal zusammenspielen. Zum Beispiel ist der niedergelassene Bereich nicht dafür da, privilegierte Zugänge zum stationären Bereich zu ermöglichen, sondern er soll vielmehr eine umfassende primäre Versorgung für möglichst viele Situationen bieten. Andererseits ist es in den Spitälern wichtig, dass das Personal möglichst kontinuierlich verfügbar ist. Die Novelle des Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetzes wurde nicht mit der Intention geschaffen, die Bedingungen für ein zweites Betätigungsfeld der Mitarbeiter*innen zu eröffnen. Sondern mit dem Kalkül, den angestellten Ärzt*innen in den Spitälern ein gutes Arbeitsumfeld zu bieten, im Sinne des Arbeitsschutzes und des Patient*innenschutzes. Regulatorische Bemühungen in diesem Bereich führen naturgemäß zu Debatten. Lassen Sie mich einen Vergleich heranziehen: Wenn ich in einer Mittelschule am Vormittag unterrichte, kann ich den Schüler*innen meiner Klasse nicht am Nachmittag in meinem privaten Institut Nachhilfe geben. Wir haben konkurrierende Versorgungsbereiche und das spricht für klare Regeln, Codes of Practice und Transparenz. Wir haben im internationalen Vergleich, das wird oft übersehen, ein System mit besonders hohen privaten Gesundheitsausgaben pro Kopf und eine ausgeprägte Niedrigschwelligkeit, was die Anbieterseite betrifft. Und wir sind im EU-Vergleich relativ gut mit personellen Ressourcen ausgestattet, aber wir schaffen es letztlich nicht, diese Ressourcen so einzusetzen, dass wir in allen Bereichen eine gute und zielorientierte Versorgung gewährleisten können.
Der Mangel an Fachkräften beschäftigt aber alle im Gesundheitssystem Tätigen. Was ist hier ein nachhaltiger Weg zu einer Absicherung der personellen Ausstattung? Dass sich Länder gegenseitig Personal abwerben, wird ja kein sinnvoller Weg sein.
Ostermann: Das ist in der Tat die große Herausforderung für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Wobei auch international gesehen die Klage über Ressourcenknappheit beim Personal – relativ unabhängig von der tatsächlichen Ärzt*innen- oder Pfleger*innendichte – groß ist. Das hat damit zu tun, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen schon aufgrund der demographischen Entwicklung steigt und aus ebendiesem Grund in Gesundheitsberufen weniger Nachwuchs zur Verfügung steht. Eine der Antworten ist, möglichst viele Leistungen von ressourcenintensiven Versorgungsstufen in weniger ressourcenintensive Bereiche zu bringen – ambulant vor stationär. In weiterer Folge heißt es, Bereiche, die technologisch ersetzbar sind, auch technologisch zu ersetzen. Wir brauchen bezüglich Digitalisierung, Telemedizin und ähnlichen Potenzialen eine durchgängige Strategie auf allen Ebenen. Zugleich müssen wir bemüht sein, die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zu reduzieren. Da ist eine Reorientierung der Gesundheitssysteme in Richtung mehr Prävention gefragt. Eine andere Komponente ist es auch zu hinterfragen, wo wir im Gesundheitssystem möglicherweise Leistungen erbringen, die keinen zusätzlichen Nutzen haben. Ich denke da zum Beispiel an die Choosing Wisely Initiative, im Rahmen derer Fachgesellschaften Leistungen identifiziert haben, die wenig Nutzen stiften und teilweise sogar Schaden anrichten. Dabei geht es überhaupt nicht – das ist mir wichtig zu betonen – um Rationierung. Sondern es geht unter anderem darum, durch das Vermeiden nicht indizierter Interventionen Schaden zu vermeiden und für mehr Patient*innen-Sicherheit zu sorgen.
Interview: Birgit Kofler
Fotos: © BKA/Christopher Dunker; © GÖG/Rüdiger Ettl
Auf einen Blick: Daten zur Krankenhaushäufigkeit
Von 2013 bis 2022 ist in Österreich die Zahl der stationären Aufenthalte pro 100 Einwohner*innen von 33,3 auf 25,0 gesunken.
Im OECD-Ländervergleich 2021 liegt Österreich unter den europäischen Ländern mit 7,1 Betten pro 1.000 Einwohner*innen hinter Deutschland (7,8 Betten) an zweiter Stelle. Österreich hat damit um 65 Prozent mehr Spitalsbetten als der Durchschnitt der OECD-Länder, dies aber bei deutlich rückläufiger Tendenz.
Herwig Ostermann , ao. Univ.-Prof. Dr.
Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG)
Herwig Ostermann ist seit 2016 Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), dem zentralen Forschungs- und Planungsinstitut für das Gesundheitswesen und die Gesundheitsförderung in Österreich. Zuvor leitete er seit September 2013 die Abteilung für Gesundheitsökonomie an der Gesundheit Österreich GmbH. Der Gesundheitsökonom hat Internationale Wirtschaftswissenschaften in Innsbruck und Dublin sowie Gesundheitswissenschaften an der UMIT in Hall/Tirol studiert, wo er seit 2011 auch eine Teilzeitprofessur für Gesundheitspolitik und -verwaltung hält.