"Pflege braucht viel Aufmerksamkeit"
Immer mehr Menschen in Österreich pflegen einen Angehörigen zu Hause. Doch ohne entsprechende Ausbildung ist der Informationsbedarf hoch. Die Pflegewerkstatt der Elisabethinen Linz ist eine Anlaufstelle für Laienpflegende und unterstützt diese beim Entwickeln individueller Lösungen für die Herausforderungen des Pflegealltags. Im Interview spricht Pflegewerkstatt-Leiterin Brigitte Käferböck über das praxisorientierte und erfahrungsgeleitete Beratungs- und Schulungsangebot.
Seit wann gibt es die Pflegewerkstatt und warum wurde sie gegründet?
Brigitte Käferböck: Die Pflegewerkstatt als Anlaufstelle für pflegende Angehörige gibt es seit 2009. Ursprünglich war sie in die hausinterne Gesundheits- und Krankenpflegeschule der Elisabethinen Linz integriert, in der auch das professionelle Pflegepersonal ausgebildet wurde. Aufgrund veränderter Ausbildungsstrukturen ist die Pflegewerkstatt heute ein eigenständiger Bereich, der eng mit dem Ordensklinikum Linz zusammenarbeitet. Sie nutzt nach wie vor dieselben Räumlichkeiten wie die verschiedenen Ausbildungsstätten und hat dadurch die ganze Ausstattungspalette von Trainingsbetten über Rollstühle bis zu Inkontinenzversorgungsprodukten zur Verfügung. Das Wesentliche ist aber der individuelle, praxis- und entwicklungsorientierte Ansatz, den die damalige Leiterin der Gesundheits- und Krankenpflegeschule und heutige Generaloberin Schwester Barbara Lehner bei der Gründung etabliert hat. Sie hat früh erkannt, dass häusliche Pflege ein hochaktuelles und zukunftsrelevantes Thema ist. Angesichts der immer älter werdenden Bevölkerung wächst ja auch die Anzahl der zu Pflegenden und damit der Bedarf an Information, Beratung und konkreter Hilfe für die betroffenen Familien. Nicht wenige Angehörige pflegen zu Hause. In den nächsten Jahren wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen noch einmal um mehr als ein Drittel ansteigen.
Welches Beratungs- und Schulungskonzept verfolgt die Pflegewerkstatt?
Die Beratung und auch die Schulungen der Pflegewerkstatt fördern eine Art des Lernens, die auf die individuelle Weiterentwicklung ausgerichtet ist. Die persönliche Situation des zu Pflegenden und des pflegenden Angehörigen steht im Fokus. Vor welchen Herausforderungen stehen sie gerade? Statt einen allgemeinen theoretischen Frontalunterricht abzuhalten, gehe ich mit meinen Klientinnen und Klienten direkt in die Praxis. Das eigene Tun macht Dinge anschaulich und so merkt man sie sich besser. Ich klassifiziere auch nichts als richtig oder falsch. Grundsätzlich ist absolut nichts verkehrt daran, etwas auf seine eigene Art zu machen. Aber weil es bei der Bewältigung einer Aufgabe immer mehrere Varianten gibt, gebe ich den Angehörigen Tipps und Hinweise, was sie im Fall eines Problems noch versuchen könnten. Zum Beispiel wenn es darum geht, den zu Pflegenden aus dem Bett zu bringen oder nach einem Sturz dabei zu unterstützen, wieder aufzustehen. Oft ist man ja in einem bestimmten Muster gefangen und eine Außensicht hilft, wieder neue Perspektiven zu entdecken. Die Erfahrung zeigt: Bei der Mobilisierung können schon kleine Änderungen einen großen Unterschied machen. Das dahinterliegende Konzept heißt Kinaesthetics.
"Statt einen allgemeinen theoretischen Frontalunterricht abzuhalten, gehe ich mit meinen Klientinnen und Klienten direkt in die Praxis."
Die nötigen Pflegehandgriffe können die Angehörigen unter fachkundiger Anleitung in der Pflegewerkstatt üben und zu Hause ausprobieren. In einem Nachgespräch evaluieren wir dann, wie es ihnen damit gegangen ist. Also was gut geklappt hat, was sie nicht verstanden haben und wo sie noch weitere Hilfe benötigen. Wie es ihnen und dem zu Pflegenden damit geht. Ich ermutige sie, kreativ zu sein, sich bewusst zu machen, dass sie eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten zur Verfügung haben. Und dass es normal ist, wenn nicht immer alles funktioniert. Es sind ja auch gesunde Menschen nicht immer in der gleichen Stimmung. Manchmal ist alles mühsam, weil einem der Schwung fehlt, am nächsten Tag gehen einem dieselben Dinge ganz leicht von der Hand. So geht es dem zu Pflegenden natürlich auch. Pflege braucht daher viel Aufmerksamkeit. Man muss sich immer wieder neu miteinander abstimmen und aufeinander einlassen, denn vieles ist einfach eine Sache von Reaktion und Wirkung. Das möchte ich den Betroffenen vermitteln. Dieses Bewusstsein und die Praxiserfahrungen mit dem zusätzlichen pflegerischen Know-how können wieder mehr Leichtigkeit in den Pflegealltag einziehen lassen. Egal, wo Menschen gerade stehen, Entwicklung ist in jeder Phase der Pflege möglich.
Warum ist es wichtig, dieses Entwicklungspotenzial wahrzunehmen?
Achtsamkeit und das Reagieren auf die jeweilige Ist-Situation fördert unter anderem die Selbstständigkeit des zu Pflegenden. Wenn ich als pflegender Angehöriger immer das Gleiche mache und den anderen nicht einbinde, nehme ich ihm die Gelegenheit, sein Handlungsspektrum zu erweitern und beispielsweise mitzusteuern in der Bewegung. Aber so vieles wird einfacher, wenn man die Dinge gemeinsam macht. Es spart Kraft, minimiert Schmerzen, stärkt die Beziehung. Zusammen mit einem Basiswissen über funktionale Anatomie und Bewegungsabläufe, das die Pflegewerkstatt ebenfalls vermittelt, hilft diese bewusste Wahrnehmung zu erkennen, wo es Spielräume gibt und wo der Körper Grenzen setzt. Das Lernen hört niemals auf, auf beiden Seiten. Eine Klientin hat mir einmal erzählt, ihre Mutter habe in der letzten Phase der Pflege erstmals gelernt, auf sich selbst zu achten und auch ab und zu nein zu sagen. Nach einem Leben, in dem diese immer nur für andere da war. So einen großen Entwicklungssprung hätte sie bei ihrer Mutter nie für möglich gehalten.
Gibt es auch über die Einzelberatungen und -schulungen hinausgehende Angebote?
Neben den kostenlosen Erstberatungen und darauf aufbauenden bedarfsgerechten Einzelschulungen veranstaltet die Pflegewerkstatt auch Grund- und Aufbaukurse in Kinaesthetics. Hier können pflegende Angehörige die Inhalte systematisch vertiefen und sich noch mehr kinästhetische Blickpunkte für die unterschiedlichen Aktivitäten des täglichen Lebens aneignen. Dies aber ebenfalls zugeschnitten auf die Situation zu Hause und die individuelle Bewegungsentwicklung, abhängig von den Ressourcen des gepflegten Familienmitglieds. Um die jeweiligen Fragestellungen zu beispielsweise Körperpflege, Nahrungsaufnahme, Positionswechseln oder der optimalen Umgebungsgestaltung intensiv bearbeiten zu können, arbeiten wir in Kleingruppen. Der Kinaesthetics-Grundkurs ist so gestaltet, dass ein Teil davon in der Pflegewerkstatt stattfindet und der andere ein Übungsauftrag zu Hause ist, der dann nachbesprochen wird. Nach der coronabedingten Unterbrechung soll es ab Mai oder Juni wieder mit den Kursen weitergehen. Und ebenso mit dem Stammtisch für pflegende Angehörige, den das Entlassungsmanagement des Ordensklinikums Linz anbietet. Dabei handelt es sich um offene Abende, an denen ein ausgewähltes pflegerelevantes Thema besprochen wird. Des weiteren arbeiten wir gerade an der Detailplanung für eine Musterwohnung als zusätzliches Schulungssetting.
Welche Menschen kommen zu Ihnen in die Pflegewerkstatt?
Durch die enge Zusammenarbeit mit dem Entlassungsmanagement des Ordensklinikums können Angehörige, wenn sie möchten, noch während des Spitalsaufenthalts des zu pflegenden Familienmitglieds oder gleich danach eine Beratung oder Schulung der Pflegewerkstatt erhalten, um sich mit der Basispflege vertraut zu machen. Es kann aber auch jeder andere, der zu Hause pflegt, hierherkommen, zu jedem Zeitpunkt in der Pflege und so oft er möchte. Die Pflegewerkstatt steht allen offen.
Pflegesituationen ergeben sich manchmal ganz plötzlich, etwa nach einem Schlaganfall oder einem Unfall, oder langsam, fast unbemerkt. Das kann so beginnen, dass man die eine oder andere Aufgabe für einen Angehörigen übernimmt, den wöchentlichen Einkauf zum Beispiel oder das Haarewaschen. Mit der Zeit wird es mehr und mehr, oft nehmen die Leute gar nicht bewusst wahr, dass sie bereits in die Rolle eines Pflegenden hineingewachsen sind. Bis sie aus irgendeinem Grund an ihre Grenzen stoßen. Dann kommen sie hierher und wir schauen uns das gemeinsam an.
"Es kann aber auch jeder andere, der zu Hause pflegt, hierherkommen, zu jedem Zeitpunkt in der Pflege und so oft er möchte. Die Pflegewerkstatt steht allen offen."
Das Klientel der Pflegewerkstatt ist kunterbunt gemischt. Da kommt zum Beispiel der 86-jährige Herr, der seine Schwester pflegt, die Mutter eines behinderten Kindes, die pflegende Schwiegertochter, der Ehegatte einer an MS erkrankten Frau oder der junge Mann, der sich um die bettlägrige Mutter kümmert. Frau, Mann, jung, alt, es ist alles dabei und ich differenziere da auch nicht nach Patientengruppen. Bei all den unterschiedlichen Ausgangslagen geht es ja darum, den besten Weg zu finden. Ich schaue mir an, was der individuelle Mensch braucht. Und aus Schulungsperspektive kann ich sagen: Es gibt immer Möglichkeiten.
Welche Probleme treten in der häuslichen Pflege am häufigsten auf?
Alles, was mit Mobilisation zu tun hat, ist unbestritten die Nummer eins. Darum sind die Kinaesthetics-Inhalte so wertvoll, denn hier werden schonende und effektive Bewegungsmöglichkeiten aufgezeigt. Weiters spielt der Umgang mit Demenz eine Rolle. Hier ist noch viel Bewusstseinsarbeit zu verrichten, die Gesellschaft müsste sich wesentlich mehr damit auseinandersetzen. Momentan ist es leider so, dass demente Menschen oft abgesondert werden. Dabei können viele Betroffene bestimmte Dinge noch lange Zeit machen, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt. Wenn nicht, verschwinden diese verbliebenen Fähigkeiten schneller als nötig. Auch hier gibt es also Entwicklungspotenzial, unterschiedliche Ausgangslagen und wechselnde Tagesverfassungen. Wir müssen die Betroffenen in ihrem Jetztzustand annehmen und nicht mit Blick darauf, was einmal werden könnte. Das erfordert viel Sensibilität. Wie in allen Pflegefragen geht es auch hier darum, achtsam mit sich selbst und dem Betroffenen umzugehen und einen gemeinsamen Weg zu finden. Man kann lernen, auf Signale zu achten, wenn eine direkte Kommunikation nicht mehr möglich ist. Wenn ein Demenzpatient etwas nicht will, kann sich das zum Beispiel in der Körperspannung äußern, in Rückzug oder Aggression. Dann gilt es nach der Ursache zu suchen und darauf zu reagieren. Allerdings würde ich mir auch unabhängig vom Thema Demenz ein breiteres gesellschaftliches Verständnis für die Hilfsbedürftigen unter uns wünschen. Das fängt bei Nachbarschaftshilfe an, bei Eigeninitiativen, wenn man sieht, dass etwas gebraucht wird. Natürlich mit Takt und Rücksichtnahme darauf, ob es sinnvoll und erwünscht ist. Meiner Meinung nach wird aber noch viel zu viel weggeschaut.
"Momentan ist es leider so, dass demente Menschen oft abgesondert werden. Dabei können viele Betroffene bestimmte Dinge noch lange Zeit machen, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt."
Ein weiteres häufiges Pflegethema, dem man mit Achtsamkeit gut begegnen kann, ist Überlastung. Das Mehr an Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse und Signale des zu Pflegenden, aber auch für sich selbst bringt beiden Beteiligten Erleichterung. Vieles wird bedeutend weniger anstrengend, man findet leichter Lösungen. Eine Außensicht kann hier ebenfalls hilfreich sein. Einmal hatte ich eine Frau in der Beratung, die traute sich nicht mehr in den Garten, weil sie dachte, sie könne ihre bettlägrige Mutter keine Sekunde allein lassen. Im Gespräch haben wir herausgefunden, dass sich das Bett eigentlich gut ans Fenster schieben lässt. Die betagte Dame konnte sogar darin aufgesetzt werden und aus dem Fenster schauen. Das war für sie ein Motivationsschub: Einige Wochen später saß sie bereits im Rollstuhl im Garten.
Anderes ist wieder eine Frage der Einteilung. Kommt die Hauskrankenpflege ausgerechnet dann, wenn die Kinder in die Schule müssen? Man sollte sich zugestehen, Tagesabläufe so zu organisieren, dass sie einem das Leben nicht erschweren.
Hat Corona viel verändert?
Nun, die Kurse und die Stammtischabende haben wir wie gesagt etwas in die Zukunft verschoben und im ersten Lockdown war die Pflegewerkstatt ganz geschlossen. Aber mittlerweile finden die bedarfsgerechten Einzelberatungen und -schulungen wieder ganz normal statt, nur die Nachbetreuung mache ich jetzt eben öfter per Telefon oder Videokonferenz. Grundsätzlich steht die Pflegewerkstatt – auch außerhalb der Pandemie – den Menschen zeitnah zur Verfügung. Es gab auch früher nie Wartelisten, sondern innerhalb von ein, zwei Wochen einen Termin. Probleme in einer Pflegesituation sind immer akut und können sich schnell verändern. Die Hilfe muss also da sein, wann sie benötigt wird.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: depositphotos.com, Ordensklinikum Linz
Brigitte Käferböck,
Leiterin der Pflegewerkstatt der Elisabethinen Linz
Käferböck ist diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester, Kinaesthetics-Trainerin sowie Skills-Trainerin am dritten Lernort der Gesundheits- und Krankenpflegeschule Oberösterreich. Nebenbei studiert sie Pflegepädagogik und schreibt an ihrer Masterarbeit über die Pflegewerkstatt.