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Gesundheit
Österreich
06.02.2024

Pflegerisches Troubleshooting im Akutsetting

Nicht jedes akute gesundheitliche Problem braucht eine rettungsdienstliche Intervention. Doch oft – etwa zu Tagesrandzeiten oder am Wochenende – haben Menschen keine andere Möglichkeit, als in einem solchen Fall den Rettungsdienst zu rufen. Notruf Niederösterreich setzt deshalb in einem Pilotprojekt Acute Community Nurses (ACN) ein. Diese vereinen die Doppelqualifikation als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegeperson (DGKP) und Notfallsanitäter*in und tragen dazu bei, Notärzt*innen zu entlasten und unnötige Transporte in Kliniken zu vermeiden. ACN Bastiane Pinz gab INGO Einblick in die Hintergründe und den Verlauf des innovativen Projekts. 

Frau Pinz, was genau ist Acute Community Nursing? 

Bastiane Pinz: Acute Community Nurses, kurz ACN, sind diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger*innen (DGKP) mit einer zusätzlichen Notfallsanitäter*innenausbildung. Dadurch, dass sie beide Qualifikationen vereinen, können sie den Rettungsdienst optimal unterstützen. Normalerweise wird dieser in allen akuten Notfällen gerufen, auch pflegerischen, wenn die Menschen keine andere Möglichkeit haben. Etwa weil sie immobil sind und nachts, feiertags oder am Wochenende kein mobiler Dienst zur Verfügung steht und keine Hausärzt*innen für Hausbesuche greifbar sind. Bis vor Kurzem war das auch in Niederösterreich so. Notruf Niederösterreich hat aber erkannt, dass es für einen Teil dieser Probleme gar keinen Rettungsdienst oder Notärzt*innen braucht, oft nicht einmal einen Krankenhaustransport. Solche Fälle können ACN bei den Betroffenen zu Hause übernehmen. Zu diesem Zweck hat Notruf Niederösterreich ein ACN-Pilotprojekt auf den Weg gebracht. Das ist neu, spart rettungsdienstliche und klinische Ressourcen und kommt auch der Lebensqualität der Patient*innen zugute. Denn wenn ein*e ACN kommt, muss die Rettung sie nicht wegen eines eigentlich vor Ort behebbaren Vorfalls ins Krankenhaus bringen, wo sie vielleicht lange in einer Notaufnahme warten müssen. 

Bei welchen Akutproblemen kommen ACN zum Einsatz?

Relativ häufig geht es um Probleme mit Sonden und Kathetern. Unsicherheiten mit Ernährungssonden zum Beispiel, verlegte oder verstopfte Harnkatheter. Im Gegensatz zum Rettungsdienst können wir als diplomierte Pflegepersonen eine Neuanlage vor Ort durchführen. Dasselbe gilt für Schwierigkeiten mit chronischen Wunden und ungeplante Verbandswechsel. Auch bei kleineren Verletzungen, Verschlechterungen des Allgemeinzustands chronisch kranker Patient*innen oder Schmerzen kommen wir zum Einsatz. Bei Palliativpatient*innen etwa sind Angehörige oft überfordert, wenn plötzlich starke Schmerzen oder Atemnot auftreten. Im Idealfall lässt sich durch unsere Intervention eine Hospitalisierung vermeiden. Aber auch bei echt kritischen Ereignissen können wir professionell handeln und Maßnahmen zur Überbrückung der Wartezeit auf den Notarzt respektive die Notärztin ergreifen. Die Sanitäter*innenausbildung der ACN ist die höchste im nichtärztlichen Rettungsdienst. Man könnte unsere Rolle auch als die eines mit Kompetenzen für alle möglichen Akutsettings ausgestatteten Troubleshooters sehen.

"Ein*e ACN möchte den Notarzt respektive die Notärztin nicht ersetzen."

Was macht ein*e ACN nicht?

Ein*e ACN möchte den Notarzt respektive die Notärztin nicht ersetzen. Ihre Aufgabe ist es, notärztliche Ressourcen freizuspielen, damit diese für die kritisch kranken und instabilen Patient*innen verfügbar sind, die sie wirklich benötigen. Denn klarerweise schränkt es deren Verfügbarkeit ein, wenn sie für Tätigkeiten gebunden sind, die auch ein*e ACN bewältigen kann. Gerade in unserer Zeit, in der es immer schwieriger wird, ärztliche Ressourcen flächendeckend und zeitnah an Einsatzorte zu bringen, ist das von großer Bedeutung. Weiters macht ein*e ACN keine Regelversorgung, also wir sind keine mobile Hauskrankenpflege. Wir kommen nicht jeden Tag zur selben Zeit vorbei, um einen Verband neu anzulegen oder Medikamente zu verabreichen. Im Bedarfsfall machen wir so etwas zwar überbrückungsmäßig für zwei, drei Tage, aber nicht dauerhaft. 

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Warum ist die hohe Doppelqualifikation wichtig?

Die qualitativ hochwertige zweifache Ausbildung ist wichtig, weil wir tagtäglich mit den verschiedensten Herausforderungen konfrontiert sind, rettungsdienstlichen ebenso wie pflegerischen oder zum Teil auch in Richtung Primärversorgung gehenden. ACN müssen in der Lage sein, sich innerhalb weniger Minuten auf ein komplett anderes Patient*innenbild einzustellen und es zu beurteilen. So kann es sein, dass sie zuerst bei jemandem mit verstopftem Katheter sind, 20 Minuten später bei einem Verkehrsunfall stehen und wieder 20 Minuten später bei einer Patientin mit hohem Fieber vorfahren, deren Hausärztin gerade nicht ordiniert. Immer gilt es einzuschätzen, was die jeweils bestmögliche Versorgung ist. Wir stehen in engem Kontakt zur Rettungsleitstelle und können sofort einen Transport anfordern, wenn wir die Indikation dafür sehen. Wenn es andere Gesundheitsdienstleister*innen braucht und wir diese erreichen können, dann ziehen wir diese hinzu. Und alles, was wir selbst bewerkstelligen können, übernehmen wie gesagt wir.

Wie sieht der Ablauf bei ACN-Einsätzen aus?

Alarmiert werden wir durch die unterschiedlichen Notfallnummern 141, 144 oder 1450. Die Rettungsleitstelle und auch die Emergency Communication Nurses der Gesundheitsberatung 1450 arbeiten mit standardisierten Abfrageschemas und erkennen es an bestimmten Einsatzstichwörtern, wenn die Entsendung einer ACN das Mittel der Wahl ist. Deutet alles darauf hin, dass die Situation nicht unmittelbar kritisch ist, rücken wir als so genannte Single-Responder aus. Damit ist eine Person in einem Fahrzeug gemeint. Es kann uns aber auch ein Rettungsdienst anfordern, etwa wenn er vor Ort festgestellt hat, dass eine Schmerztherapie oder eine pflegerische Beurteilung vonnöten ist. Dann kommen wir ebenfalls dorthin. 

Grundsätzlich unterstützen wir den Rettungsdienst immer da, wo er erweiterte Kompetenzen braucht. Es ist nicht zwangsläufig notwendig, dass beide Ressourcen vor Ort sind, aber es kommt nicht selten vor, dass wir gemeinsam agieren. Bei Abwesenheit haben auch Allgemeinmediziner*innen die Möglichkeit, uns zu Randzeiten für Tätigkeiten wie Verbandswechsel oder die Verabreichung von Infusionen anzufordern, das sind aber eher Ausnahmefälle. Und nicht zuletzt können wir in Eigeninitiative eine ACN-Folgevisite veranlassen, wenn uns das nötig erscheint. Etwa um zu überprüfen, ob sich der Zustand einer Person nach einer Infusion verbessert hat, und den Infusionskatheter zu entfernen. Das heißt, wir ACN stehen in enger Absprache mit der Rettungsleitstelle und anderen Gesundheitsdienstleister*innen, können aber auch eigenständig handeln. 

Wie ist es zu dem Pilotprojekt von Notruf Niederösterreich gekommen?

Das ACN-Pilotprojekt wurde 2020 ins Leben gerufen, vor dem Hintergrund, dass der Rettungsdienst oft der einzige permanent erreichbare Gesundheitsdienstleister ist und zunehmend ungewollt zum Ersatz allgemeinmedizinischer Versorgung wird. Denn einerseits erhöht der demografische Wandel mit immer mehr älteren Menschen die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, andererseits kommt es durch die damit verbundenen Pensionierungswellen natürlich auch zu Engpässen beim Gesundheitspersonal. Überlastete Haus- und Notärzt*innen, Rettungsteams und Krankenhausambulanzen sind die Folge. Daher gab es die Idee, den steigenden pflegerischen Bedarf in Akutsituationen durch eigens dafür qualifizierte Kräfte aufzufangen. Mit der Zusammenführung der Berufsbilder des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege und des Notfallsanitäters bzw. der Notfallsanitäterin in Form der Acute Community Nurse hat Niederösterreich aber nicht nur ein vielversprechendes Pilotprojekt auf die Beine gestellt, sondern ist tatsächlich auch ein Pionier in Bezug auf einen neuen Gesundheitsberuf. So etwas gab es bislang in Österreich noch nicht. 

Wie ist das Projekt bis jetzt verlaufen?

Es ist 2020 mit einem ersten Standort in Bruck an der Leitha gestartet, mittlerweile haben wir auch Stützpunkte in Stockerau, St. Pölten, Waidhofen an der Thaya und Baden. Seit Beginn 2023 sind wir in der Pilotphase zwei. Zu den fünf Stützpunkten sollen in absehbarer Zeit weitere dazukommen. Zurzeit sind knapp 40 ACN im Einsatz. Es gibt regelmäßig Evaluierungen, auch von extern, um den Nutzen des Projekts zu erheben. So hat etwa die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) bereits 2022 festgestellt, dass der Einsatz von ACN in der Pilotregion eine sinnvolle Ergänzung des Angebotsspektrums darstellt sowie insbesondere Bevölkerungsgruppen wie älteren und hochbetagten Menschen entgegenkommt, für die Spitalsaufenthalte auch negative Folgen haben können. Basierend auf den laufenden Erkenntnissen soll in Projektphase drei eine Ausrollung über das gesamte Bundesland erfolgen und damit hoffentlich auch der Übergang in einen dauerhaften Regelbetrieb. 

"Immer mehr kennen bereits unsere blau-gelbe Uniform und unser entsprechend gekennzeichnetes Auto in denselben Farben."

Sie selbst sind seit über einem Jahr als ACN in St. Pölten stationiert. Wie ist denn Ihre persönliche Zwischenbilanz?

In Gesprächen mit anderen Gesundheitsdienstleister*innen und Patient*innen bekommen wir viel positives Feedback. Aber auch die Einsatzzahlen sprechen für sich. Natürlich brauchen Pilotprojekte immer eine Anlaufphase, aber grundsätzlich erleben wir eine steigende Tendenz bei den Ausfahrten. Vergangenen November wurden Zwischenresultate veröffentlicht, denengemäß zwischen Jänner und Oktober 2023 bei mehr als 5500 Interventionen über 4000 Patient*innen zu Hause versorgt werden konnten. 40 Prozent aller Interventionen waren rein akutpflegerischer Natur, 20 Prozent kombinierte Sanitäter*innen- und Pflegemaßnahmen, rund zehn Prozent rein rettungsdienstlich und fünf Prozent Primärversorgungen aufgrund von unbesetzten Ärzt*innensprengel am Wochenende. Ich merke, dass die Patient*innen inzwischen mitbekommen haben, dass es uns ACN gibt und teilweise sogar gezielt nach ACN-Einsätzen fragen. Immer mehr kennen bereits unsere blau-gelbe Uniform und unser entsprechend gekennzeichnetes Auto in denselben Farben. Aber auch die gute Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsdienstleister*innen wie zum Beispiel den Ärzt*innen trägt sicherlich zur Steigerung unserer Einsätze bei. 

Wie reagieren die Patient*innen, wenn ein ACN-Auto statt eines Rettungswagens bei ihnen vorfährt? 

Bei Erstbesuchen sind manche Patient*innen etwas überrascht. Allerdings wird ihnen bereits am Telefon von der Leitstelle erklärt, dass eine diplomierte Pflegekraft zu ihnen kommt. Wir bekommen vorwiegend positive Resonanz, weil die Patient*innen einfach unglaublich dankbar sind, dass sie sich die Anstrengungen des Transportwegs und die Wartezeit in der Ambulanz ersparen. Bis jetzt mussten ja manche zum Beispiel nur wegen eines verstopften Harnkatheters – etwas, das vor Ort in 20 Minuten behoben werden kann – mühsam aus dem Pflegebett herausmobilisiert, in den Rettungswagen getragen, ins Spital geführt und dann wieder zurückgebracht werden. Auch die Angehörigen sind ausgesprochen froh über unsere niederschwellige Hilfe, denn wir stehen ihnen bei unseren Einsätzen mit Rat und Tat zur Seite. Unter anderem erklären wir ihnen, worauf sie achten müssen, damit sie und die Patient*innen danach besser zurechtkommen.

Was muss man tun, um ACN zu werden?

Interessent*innen müssen auf jeden Fall diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen mit Notfallsanitäter*innenausbildung sein, für die Mitarbeit im Projekt ist es aber auch wünschenswert, dass sie bereits mehrjährige präklinische und innerklinische Erfahrung gesammelt haben. Ich habe zum Beispiel vorher längere Zeit in einem Spital gearbeitet und mich parallel ehrenamtlich im Rettungsdienst engagiert. Die Kombination der Ausbildungen plus Berufserfahrung schafft eine gute Basis, um den Patient*innen als ACN gerecht zu werden. Wenn man das Aufnahmeverfahren positiv absolviert hat, erhält man bei Notruf Niederösterreich eine mehrwöchige Basisausbildung, die auf die Tätigkeit als ACN vorbereitet. Darüber hinaus ist die Bereitschaft zu laufender Fort- und Weiterbildung erforderlich.

Eine Neuheit in diesem Zusammenhang ist aber auch das kombinierbare Bachelorstudium Gesundheits- und KrankenpflegePLUS der Fachhochschule St. Pölten mit integrierbarer Rettungs- und Notfallsanitäter*innenausbildung. Dieses gibt es seit 2015 und eröffnet von vornherein die Möglichkeit, später einmal – mit entsprechender Berufserfahrung im Curriculum vitae – als ACN zu arbeiten. Es machen auch immer wieder Studierende dieses Studiengangs vier- bis sechswöchige Praktika bei uns, um in unser Feld hineinzuschnuppern. Für höhere Semester ist das sicherlich spannend, weil man die Arbeit als ACN wirklich mit keinem anderen Setting vergleichen kann. 

Warum haben Sie sich dafür entschieden, ACN zu werden?

Nachdem ich bereits in beiden Gebieten gearbeitet habe, war es für mich eine tolle Gelegenheit, die rettungsdienstliche und die pflegerische Komponente direkt zu verbinden. Ich schätze es außerdem sehr, dass ich als ACN die Patient*innen und die Angehörigen dort abholen kann, wo sie mich gerade brauchen. Ebenso gefällt mir die Eigenverantwortlichkeit in der täglichen Arbeit. Der persönliche Austausch mit den Menschen zählt zu meinen Kernaufgaben, dadurch habe ich die Zeit und die Rahmenbedingungen, sie in ihrer jeweiligen Lage bestmöglich zu unterstützen. Mich motiviert zum einen, dass ich damit etwas bewirken kann, und zum anderen, wie wertschätzend und dankbar die Menschen darauf reagieren. 

Interview: Uschi Sorz; Fotos: privat, Notruf Niederösterreich

Bastiane Pinz, DGKP

Notfallsanitäterin, Acute Community Nurse

Pinz absolvierte ihre Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin (DGKP) in Tulln und schloss diese 2016 ab. Anschließend arbeitete sie im Universitätsklinikum St. Pölten auf einer internen Abteilung mit Schwerpunkt Gastroenterologie und Hepatologie. Sie ist zudem ausgebildete Notfallsanitäterin. Seit Anfang 2023 ist sie für 30 Wochenstunden als Acute Community Nurse bei Notruf Niederösterreich am Standort St. Pölten tätig. Nebenbei absolviert sie das Upgrade zum Bachelor für Gesundheits- und Krankenpflege und studiert Betriebswirtschaft für das Gesundheitswesen an der FH Krems.

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