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Gesundheit
Österreich
23.04.2024

Mehr Patient*innen- Sicherheit nach Operationen durch künstliche Intelligenz

Jedes Jahr erleiden zahlreiche Patient*innen nach Operationen schwerwiegende Komplikationen. Jens Meier, Vorstand der Universitätsklinik für Anästhesiologie am Kepler Universitätsklinikum Linz, leitet die Entwicklung eines KI-basierten Frühwarnsystems, das die Patientensicherheit revolutionieren könnte. Im Gespräch mit INGO erläutert er, wie dieses innovative Tool funktioniert und welche Verbesserungen es bringen könnte.

Worum geht es bei dem postoperativen Frühwarnsystem, das das Linzer Kepler-Klinikum gerade zusammen mit mehreren Kooperationspartner*innen entwickelt?

Jens Meier: Es geht um mehr Patient*innensicherheit nach operativen Eingriffen. Dazu muss man wissen, dass ungefähr vier Prozent aller Patient*innen, die ins Krankenhaus kommen, versterben. 1,5 Prozent davon – nicht unbedingt unerwartet – auf der Intensivstation. Aber 2,5 Prozent versterben auf der Normalstation. Zwar ist auch hier ist ein Prozentsatz dabei, bei dem von vornherein ein gewisses Risiko besteht, aber das ist eben nicht bei allen so. Es gibt somit einen nicht unerheblichen Anteil an Patient*innen, mit deren Tod wir nicht wirklich rechnen und wo dem auch kein ärztlicher Fehler zugrunde liegt. Diese Zahlen aus einer Studie des Forschers Rupert Pearse von der Universität London haben viele überrascht. Unser Projekt hat es sich zum Ziel gesetzt, ein einfach anwendbares Prädiktionsmodell für eventuelle Risiken nach Operationen zu entwickeln, das die Fälle in der nicht vorhersehbaren Gruppe reduzieren kann. 

Woran versterben diese Patient*innen?

Meier: Das ist ganz unterschiedlich. Schlaganfälle, Myokardinfarkte, Herzrhythmusstörungen – da ist eine ganze Bandbreite an Ursachen vertreten.

Was ist das Besondere an dem Vorhersage-Tool, bei dessen Entwicklung Sie federführend sind?

Meier: Das Besondere ist diese Vorhersage. In der Intensivstation gibt ein Monitor Signale, wenn gerade etwas passiert ist. Unser Tool soll schon warnen, bevor es so weit kommt. Anhand bestimmter Veränderungen von Vitalwerten soll es bereits sagen: aufgepasst, hier könnte es in ein, zwei Tagen zu Problemen kommen.

Welche Werte sind das?

Meier: Das möchten wir eben herausfinden. Denn damit so ein Tool praktisch genug für eine Normalstation ist, kann es ja nicht alles und jedes messen. Wir müssen uns also auf ein paar signifikante und aussagekräftige Parameter beschränken.

Ist das die Herausforderung bei dem Projekt?

Meier: Ja, genau. Wenn ich bei einer Person alles monitore, was man monitoren kann, und jede Menge Sensoren, Elektroden, Kabel und eine umfangreiche Batterie verwende, ist die Chance zweifellos groß, dass ich eine bedenkliche Verschlechterung frühzeitig erwische. Solchermaßen ausgestattete Personen werden aber herumlaufen wie ein geschmückter Christbaum, da wird die Patient*innenakzeptanz nicht sehr hoch sein. Zumal es sich ja um eine relativ kleine Gruppe handelt, der das letztlich zugute kommt. Aber eben eine, die wir sonst im regulären Krankenhausbetrieb zu leicht übersehen. Natürlich gibt es auch noch das Bauchgefühl der Ärzt*innen und Pfleger*innen, allerdings sicherlich nicht derart flächendeckend, wie wir es gerne hätten. Wir wollen ja so viele Leben retten wie nur möglich. Die Herausforderung ist es also, wenige, aber maßgebliche Parameter dafür zu identifizieren und unser Tool so klein, unauffällig, energiearm, kostengünstig und praktikabel wie möglich zu gestalten. 

Welche Rolle spielt die künstliche Intelligenz (KI) dabei?

Die KI ist für die Prädiktion zuständig. Das heißt, wenn wir Vitalparameter einer Person wie zum Beispiel Herzfrequenz, Blutdruck, Durchblutung oder Temperatur in ein Modell einsetzen, das wir zuvor anhand der gesammelten Daten aus unserer Intensivstation trainiert haben, kann die KI aus dem Gemessenen die Zukunft ausrechnen. Dazu analysiert sie die in zeitlich gleichmäßigen Abständen aufgezeichneten Datenpunkte und trifft die Vorhersage auf Basis der zugrundeliegenden Muster, die sie darin erkennt. 

Wie soll das Tool denn aussehen?

Meier: Da gibt es allerlei Möglichkeiten, sei es als als Aufkleber, als Armband, als Uhr oder dergleichen. Dieses Design erarbeiten wir gerade. 

Würden dann jeder Patient und jede Patientin routinemäßig damit ausgestattet werden?

Meier: Also als Vision ja. Schließlich weiß man nicht, wer von den angesprochenen 2,5 Prozent es letztlich notwendig hat. Wüsste man das vorher, würde man diese Person ja gleich auf eine Intermediate-Care- oder auf eine Intensivstation legen und engmaschig observieren.

Warum können solche Fälle auf der Normalstation übersehen werden?

Meier: Die Pflege geht dort zwei-, dreimal am Tag durch und schaut die Patient*innen an, einmal täglich werden dabei auch der Blutdruck und gegebenenfalls andere Werte wie etwa die Temperatur gemessen. Das ist die Routine, häufigere Aufzeichnungen können im klinischen Alltag nur anlassbezogen stattfinden. Ist der Blutdruck in Ordnung, gilt das zudem normalerweise als Entwarnung. In wenigen kritischen Fällen kann sich aber schon innerhalb von acht, neun Stunden sehr viel verändern, und solche untypischen Verläufe könnte eben ein am Körper getragenes Melde-Tool zeitnah registrieren. Die Pflegekraft wüsste dann sofort, aha, der in den letzten Tagen stabile Blutdruck – oder irgendein anderer Wert – steigt plötzlich rapide an, da könnte etwas im Busch sein. 

Was kann man dann für diese Person tun?

Meier: Nun, zunächst einmal Alarm schlagen und unverzüglich eine ärztliche Untersuchung einleiten. Aus dem jeweiligen Ergebnis leiten sich dann die adäquaten medizinischen Maßnahmen ab, die natürlich ebenfalls umgehend ergriffen werden. Der Zeitfaktor ist das Wesentliche. Das ist der Sinn des Tools. Ich könnte mir vorstellen, dass sich dadurch die Zahl derer, die unerwartet im Spital versterben, um die Hälfte senken lässt. Was wir allerdings ebenfalls noch herausfinden müssen, ist, wie sich so etwas wie Alarm-Fatigue vermeiden lässt. Das heißt, bei zu vielen unnötigen Alarmen hört mit der Zeit keine*r mehr so richtig hin. 

Das Projekt beschäftigt sich also neben den ganzen technischen Details auch mit dem Umgang mit dem Tool?

Meier: Ja. Das ist die zweite große Herausforderung, mit der wir uns in diesem Projekt auseinandersetzen. Wir werden zu Beispiel Einzelfall-Analysen davon brauchen, wie oft dem Signal eine tatsächliche, behebbare körperliche Ursache zugrunde liegt oder ob es ein Fehlalarm ist. Wie unterscheidet man das? Was löst Fehlalarme aus? Wie lässt sich dies vermeiden oder reduzieren? Und nicht zuletzt: Wie gehen wir überhaupt standardisiert mit Vorwarnungen um? Bislang werden wir ja üblicherweise gewarnt, wenn gerade etwas geschieht, siehe Intensiv- oder Überwachungsstation. Wie das ist und was wir tun, wenn wir automatisiert davon informiert werden, dass es bei jemandem in beispielsweise einem Tag zu einer signifikanten Verschlechterung kommen könnte, das wurde ja noch nie in der Praxis erprobt. Diese Werkzeuge haben wir in der Medizin in Wirklichkeit noch nicht zur Hand. 

Welche Fallstricke könnte es noch geben?

Meier: Ein zusätzliches Gerät, das bei Auffälligkeiten Alarm schlägt, kann unter Umständen die Arbeitslast erhöhen. Daher könnte nicht jede*r im Spital davon begeistert sein. Wie gestalten wir es also so, dass es für alle – Mitarbeiter*innen ebenso wie Patient*innen – akzeptabel ist? An welchen Stellschrauben müssen wir dafür überhaupt drehen? Und wie ist es mit den Kosten? Unter welchen Voraussetzungen werden die Kliniken das kaufen wollen? Jeder Forschungsantrag muss heutzutage auch ethische Fragestellungen beantworten. Wem bringt das Produkt oder das Ergebnis etwas? Was sind die Limitierungen? Damit beschäftigt sich zum Beispiel einer unserer Kooperationspartner, die Firma innovethic. Denn dadurch, dass wir solche Aspekte von vornherein abklopfen, können wir uns auch überlegen, wie wir unser Tool für die unterschiedlichen Interessen optimieren können. Sodass möglichst viele Menschen Nutzen davon haben.

Ein weiteres – langfristiges – Potenzial scheint die Patient*innenüberwachung in der Langzeitpflege zu Hause zu sein, oder? 

Meier: Ja absolut, das wäre sozusagen ein nächster Schritt, wenn das Gerät einmal fertig entwickelt und serienreif ist. Es ist sehr gut vorstellbar, dass durch solche Prädiktionsmodelle auch die medizinische Überwachung älterer Menschen in der Langzeitpflege besser ist. Das ist ein großes Zukunftsthema. Sehr viele Senior*innen leben allein, die mobile Pflege kommt einmal täglich vorbei, den Rest des Tages sehen sie keinen medizinisch ausgebildeten Menschen mehr. Würde die Pflegekraft anhand eines solchen Tools sehen, dass sich etwas anbahnen könnte, könnte sie von vornherein alle möglichen Hebel in Bewegung setzen, um die Gefahr zu bannen. 

Welche Expertisen sind in das Projekt involviert? Wer sind die Kooperationspartner*innen?

Meier: Das Kepler-Universitätsklinikum ist für die klinische Erprobung zuständig, weiters sind die Medizininformatiker*innen von der RISC Software GmbH, einem Spin-off der Johannes Kepler Universität Linz, involviert sowie die Tech-Ethik-Expert*innen der Firma innovethic und die KI-Spezialist*innen der Firma Fivesquare, die sich im Wesentlichen um die Sensoren kümmern. 

In welcher Projektphase befinden Sie sich gerade?

Meier: Nach einem ersten vom Land Oberösterreich geförderten Projekt, bei dem das Kepler-Universitätsklinikum am Medical Cognitive Computing Center (MC3) beteiligt war und wo es um die grundsätzliche Methodik ging, wurde im Herbst 2023 ein Folgeprojekt bewilligt, an dem wir jetzt mit den zuvor genannten Partner*innen arbeiten. Dieses wird von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) gefördert und einige Jahre laufen. Im Moment sind wir dabei, die ersten Algorithmen aus öffentlichen Datenbanken zu testen, die Auswahl der Sensoren und Monitore haben wir beinahe abgeschlossen. Mittelfristig wird es darum gehen, das Ganze in der Klinik zu erproben. Hier fällt beispielsweise der Ethikantrag hinein, aber auch die Festlegung der Stationen, auf denen wir es testen werden. Dazu könnten etwa die Pulmonologie oder die Kardiologie zählen, darüber führen wir gerade Gespräche mit den Kolleg*innen. All diese Aspekte – die technischen, die ethischen, die anwendungs- und ergebnisbezogenen – sind Bestandteil des laufenden FFG-Projekts. 

KI ist bereits in den klinischen Alltag eingezogen, Sie selbst haben einen starken Fokus auf medizinischer Grundlagenforschung in Zusammenhang mit KI. Was sagen Sie: Wie wird KI die Medizin verändern? Steht das, was Sie hier beispielsweise mit dem Vorhersagetool machen, am Anfang einer großen Entwicklung?

Meier: Ja zweifelsohne. Ich bin – abgesehen von der zu erwartenden Fülle an nützlichen Tools auf dieser Basis – der festen Überzeugung, dass innerhalb der nächsten 50 Jahre keine Diagnosestellung, keine medizinische Entscheidung und keine Therapieempfehlung mehr ohne die Möglichkeiten der KI durchgeführt werden wird. Das heißt nicht, dass man dann keine Ärzt*innen mehr braucht, aber ihr Berufsbild wird sich dahingehend wandeln. Die Mediziner*innen werden lernen müssen, mit diesen Methoden umzugehen und sie einzusetzen. 

 

Interview: Uschi Sorz, Foto: Claudia Börner

 

 

Kurzbio Univ.-Prof. Dr. Jens Meier, MD

Meier ist Leiter der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am Kepler-Universitätsklinikum und Lehrstuhlinhaber für Anästhesiologie und Intensivmedizin an der Johannes Kepler Universität Linz. Seine Facharztausbildung hat er an der Klinik für Anästhesiologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München und an der Klinik für Anästhesiologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main absolviert. Anschließend wurde er an die Eberhard Karls Universität in Tübingen berufen, wo er außerordentlicher Professor und leitender Oberarzt war. 2014 wechselte er nach Linz. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt umfasst Blutung, Gerinnung, Patient*innenblutmanagement sowie künstliche Intelligenz (KI) und Datenmodellierung zur Verbesserung der Patient*innenversorgung. Er ist Vorstandsmitglied des NATA (Network for the Advancement of Patient Blood Management, Haemostasis and Thrombosis), hat den Vorsitz im wissenschaftlichen Ausschuss des NATA inne und ist Mitglied des Forschungsausschusses der ESA (European Society of Anaesthesiology). Er hat in zahlreichen renommierten, peer-reviewten medizinischen Fachzeitschriften publiziert und hält national und international Vorträge zu Themen der Anästhesiologie und Intensivmedizin. 

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