„Wer den Gesundheitssektor unterminiert, untergräbt die demokratische Stabilität“
Bereits zum 27. Mal versammelt das European Health Forum Gastein (EHFG) vom 24. bis 27. September Teilnehmer*innen aus den Gesundheitssystemen dutzender Länder. Demokratie, Demographie und Digitalisierung sind in diesem Jahr zentrale Themen der bestens etablierten gesundheitspolitischen Konferenz. EHFG-Präsident Dr. Clemens Martin Auer erklärt im Gespräch mit INGO, warum ein vernachlässigter und unterfinanzierter Gesundheitssektor gefährlich für solidarische und demokratische Gesellschaften ist, was die Digitalisierung im Gesundheitsbereich voranbringen kann, wie sich die EU-Kommission im Interesse der Gesundheit mehr um die Regulierung der Lebensmittel- und Agrarindustrie kümmern sollte und warum wir einen neuen Sozialvertrag brauchen.
Das European Health Forum Gastein 2024 hat das Motto “Shifting Sands of Health: Democracy, Demographics, Digitalization.” Was verbirgt sich hinter diesem Titel?
Clemens Martin Auer: Der Titel ist Ausdruck einer ernsten Sorge, dass der Gesundheitssektor insgesamt und die Gesundheitspolitik durch drei Trends besonders herausgefordert ist: durch die demokratischen Verwerfungen, die wir in den letzten Jahren beobachten mussten, durch den demografischen Wandel, der nicht nur Alterung, sondern auch Zuwanderung und Urbanisierung umfasst, und durch die Digitalisierung. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass die relativ gute Ausstattung mit Ressourcen, die Gesundheitssysteme in der Europäischen Union heute genießen, nicht notwendigerweise ad Infinitum so bleibt. Schließlich können die politischen Entscheidungen auch einmal in eine andere Richtung gehen. Wir wollen auch darauf hinweisen, dass Europa heute vor enormen haushaltspolitischen Herausforderungen steht. Plötzlich müssen wir wieder Kriege und Aufrüstung finanzieren, wir haben durch Umwelt- und Naturkatastrophen, hervorgerufen durch den Klimawandel, enorme Kosten. Und schließlich wollen wir auch aufzeigen, dass die europäischen Gesellschaften Zuwanderungsgesellschaften sind, was auch Kosten verursacht. Vor diesem Hintergrund steht der Gesundheitssektor als einer der großen Kostenträger mit etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Wettbewerb mit anderen Sektoren. Daher ist der Ruf, der vom European Health Forum ausgehen wird: Wir müssen proaktiv einen neuen Sozialvertrag einfordern, der garantiert, dass der Gesundheitssektor in dieser haushaltspolitischen Konkurrenzsituation nicht unter die Räder kommt.
Was wären die Konsequenzen, wenn der Gesundheitssektor in dieser Situation vernachlässigt wird?
Clemens Martin Auer: Wer das Gesundheitssystem durch unzureichende Ressourcen unterminiert, untergräbt die demokratische Stabilität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Nicht funktionierende oder schlechter funktionierende Gesundheitssysteme sind ärgerlich und frustrierend für die Menschen. Das wiederum ist Wasser auf den Mühlen der Populisten, denn sie leben davon, dass es Probleme gibt und die Politik der Mitte zumindest vermeintlich nicht in der Lage ist, diese zu lösen. Daher müssen die gemäßigten politischen Kräfte den bereits angesprochenen neuen Sozialvertrag mit der Bevölkerung abschließen. Es wird erforderlich sein, dabei auch die großen Kostentreiber im Gesundheitsbereich mit einzubinden. Das sind einerseits die traditionelle Gesundheitsindustrien, also Pharma und Medizintechnik. Im Sinne von „One Health“ geht es im großen Stil aber auch um die Lebensmittel- und Agrarindustrie. Sie sind auch Verursacher von Behandlungskosten, durch ungünstige Ernährung, durch zerstörte Lebensgrundlagen in der Natur und vieles mehr.
Neben „D“ für Demokratie liegt ein Schwerpunkt der diesjährigen Debatten auf „D“ wie Demographie. Sind die europäischen Gesellschaften diesbezüglich gut vorbereitet?
Clemens Martin Auer: Ich persönlich beobachte nicht, dass die Politik in den Mitgliedsstaaten und auf der Ebene der Europäischen Union gute Lösungen für den demografischen Wandel parat hat. Dabei geht es nicht nur um die alternde Gesellschaft in Europa, sondern auch um andere wesentliche Elemente wie die zunehmende Zuwanderung, die Urbanisierung mit all ihren Folgen wie Vereinsamung und vieles mehr. Die Politik muss sehr rasch einerseits sicherstellen, dass unsere Älteren mit ausreichenden Mitteln gut gepflegt werden können. Dabei geht es nicht nur um mehr Personal. Es müssen auch neue und innovative Wege beschritten werden, denn zu viel Arbeitskraft in diesem Sektor zu binden, wäre ökonomisch nicht sinnvoll. Andererseits muss die Politik auch Kompetenz zeigen, was das Management unserer Zuwanderungsgesellschaften betrifft. Wenn das nicht gelingt, riskieren wir auch hier eine Gefährdung der demokratischen Stabilität.
Kommen wir zum dritten „D“, der Digitalisierung. Welche Herausforderungen stehen hier im Mittelpunkt der Debatte?
Clemens Martin Auer: Im Bereich der Digitalisierung beobachte ich einen demokratie- und rechtspolitischen Wandel. In den 2010er Jahren, in denen wir in Österreich an der ELGA gearbeitet haben und in denen in ganz Europa Gesundheitstelematik-Gesetze entstanden sind, waren die großen Paradigmen Datenschutz und Datensicherheit. Das hat in Wahrheit die Verbreitung der Digitalisierung gebremst, sowohl im Primary Use, also bei der Patientenbehandlung, als auch im Secondary Use, bei der Verfügbarkeit von Daten für die Wissenschaft. Mit der neuen Verordnung der Europäischen Union zum European Health Data Space findet ein Paradigmenwechsel statt. Rechtspolitisch werden nun nicht mehr nur Datenschutz und -sicherheit in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch das Recht der Patientinnen und Patienten. Dies im Sinne eines Rechtes des und der einzelnen, dass die eigenen Daten bei Untersuchungen und Therapien möglichst gut verfügbar sind, aber auch, dass sie für die klinische und therapeutische Forschung zur Verfügung gestellt werden. Das ist ein wichtiger und rechtspolitisch positiver Schritt. Die Digitalisierung eröffnet viele Chancen. Das sollte bei der nationalen Implementierung der EU-Vorgaben unbedingt berücksichtigt werden.
"Wir müssen proaktiv einen neuen Sozialvertrag einfordern."
Sie haben betont, dass eine Unterfinanzierung der Gesundheitssysteme und schlechtes Management der Zuwanderung negative Auswirkungen auf die Demokratie haben, weil Populist*innen Auftrieb bekommen. Wie ist es umgekehrt, welche Auswirkungen haben autokratische, demokratiefeindliche Tendenzen für die Gesundheitssysteme?
Clemens Martin Auer: Das ist nicht so klar, was die wissenschaftlichen Daten betrifft. Aber wir können beobachten, dass populistische Bewegungen und populistische Politikerinnen und Politiker dazu neigen, bestehende Systeme prinzipiell in Frage zu stellen und zu zerstören. In Österreich haben wir das bei der Regierungsbeteiligung der aus meiner Sicht populistischen Freiheitlichen Partei erlebt, mit der Zerschlagung der österreichischen sozialen Krankenversicherungsträger. Meistens kommt nach der Zerstörung des Bestehenden nichts Besseres nach, auch, weil das Know-how fehlt.
Das European Health Forum Gastein bietet in drei Tagen ein breit gefächertes Programm. Welche Sitzungen werden Sie persönlich keinesfalls verpassen?
Wir legen großen Wert darauf, dass auf dem European Health Forum Gastein die größeren politischen Zusammenhänge diskutiert und die politische Kompetenz gestärkt werden. Das kommt oft in anderen Foren und im Zuge der Diskussion über wichtige technische oder medizinische Details rund um das Gesundheitswesen zu kurz. Und es ist uns wichtig, dass wir über den Tellerrand hinausschauen und eine internationale Perspektive einbringen. Insofern freue ich mich auf unsere Plenarveranstaltungen, die genau diesen Rahmen bieten.
Was sind aus Ihrer Sicht besonders wichtige Aufgaben, denen sich der oder die neue EU-Gesundheitskommissar oder -kommissarin widmen muss – zum Zeitpunkt dieses Interviews wissen wir noch nicht, wer das sein wird.
Ich habe allen Gesundheitskommissarinnen und -kommissaren, die ich in den letzten 20 Jahren kennen gelernt habe und mit denen ich zusammenarbeiten konnte, das geraten, was ich auch dem oder der neuen Person in dieser Rolle mitgeben möchte: Die EU-Kommission sollte sich auf die Gebiete konzentrieren, auf denen sie tatsächlich eine unmittelbare Zuständigkeit hat. Der primäre Fokus ist der Binnenmarkt. Hier gibt es einige wichtige Aufgaben. Etwa das große Thema der Arzneimittelsicherheit und der Arzneimittelversorgung innerhalb der Europäischen Union. In der letzten Periode konnte ein großes Legislativpaket in diesem Bereich nicht finalisiert werden. Die nächste Kommissarin, der nächste Kommissar sollte darauf achten, dass dieses Paket eine tatsächlich europäische Lösung wird: In dem Sinn, dass jede Unionsbürgerin, jeder Unionsbürger den gleichen, auch zeitlich gleichen, Zugang zu hochpreisigen, innovativen Arzneimitteln bekommt. Das ist heute nicht gegeben, nicht alle Länder wollen sich das leisten. In dieser Beziehung gibt es keinen europäischen Markt, sondern 27 Einzelmärkte. Weitere wichtige Themen sind die nicht übertragbaren Krankheiten und das Konzept „One Health“. Hier hat die Europäische Kommission eine wichtige Rolle, nämlich die Regulierung der Lebensmittel- und Agrarindustrie. Was Schadstoffreduktion oder industriell gefertigte Lebensmittel mit ihrem hohen Salz-, Zucker- und Fettgehalt betrifft, könnte und sollte hier viel strikter im Interesse der Gesundheit vorgegangen werden. Es ist nicht der Konsument oder die Konsumentin schuld, weil er oder sie ungesunde Lebensmittel kauft, und auch nicht der Handel, weil er ungesunde Lebensmittel verkauft, sondern die Produzenten sind in die Verantwortung zu nehmen. Ich würde mir wünschen, dass der nächste Kommissar, die nächste Kommissarin sich hier mutiger auch im Rahmen der anderen Kommissionskolleginnen und -kollegen durchzusetzen weiß.
Interview: Birgit Kofler/ Foto: EHFG
Das European Health Forum Gastein 2024 findet als Hybridveranstaltung statt. Programm und Anmeldung: www.ehfg.org
Clemens Martin Auer, Dr.
Präsident des European Health Forum Gastein
Clemens Martin Auer ist seit 2017 Präsident des European Health Forum Gastein. Von 2005 bis 2018 leitete er die Sektion I (Gesundheitssystem, Zentrale Koordination) im Gesundheitsministerium. Anschließend fungierte er als Sonderbeauftragter für internationale Angelegenheiten des Ressorts. Vom europäischen Regionalkomitee der WHO wurde er für die Periode 2019 bis 2022 in den Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation in Genf entsandt, von 2021 bis 2022 war er stellvertretender Vorsitzender dieses Gremiums.